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Odysseus und das stille Heldentum der Richter (15.02.23)

Auf seiner Heimreise aus dem Krieg in Troja nach Ithaka hat Odysseus manche Abenteuer zu bestehen. Eines der sprichwörtlich gewordenen war seine Schiffspassage »zwischen Skylla und Chraybdis«. Beide, sowohl Skylla als auch Charybdis, waren Ungeheuer. Sie wohnten einander gegenüber und  bewachten  eine Meerenge. Skylla griff die Seeleute aus der Höhe an und riss sie von Deck, die andere, Charybdis, schlürfte, was übrig blieb, in ihren gewaltigen Schlund und spuckte das Unverdauliche aus. Odysseus musste zweimal zwischen Skylla und Charybdis hindurch, beim ersten Mal kamen alle seine Mitreisenden ums Leben, beim zweiten Mal  konnte er sich nur dadurch retten, dass er eine ungewöhnlch anstrengende Geduldsprobe bestand. Am frühen Morgen an der Meerenge angelangt, sprang er vom Schiff auf eine Klippe, wo weder Skylla noch Charybdis ihn schnappen konnten, und verharrte den ganzen Tag in äußerst unbequemer Stellung, bewegungsunfähig an einem Feigenbaum hängend, und hoffte darauf, dass die Ungeheuer keine Freude am menschenleeren Schiff hätten, ermatten würden und Charybdis einen Holzbalken ausspiee, auf den er sich dann retten könnte.

»Aber ich hob mich empor, an des Feigenbaumes Gezweige
Angeklammert, und hing, wie die Fledermaus, und vermochte
Nirgendwo mit den Füßen zu ruhn, noch höher zu klimmen.
Denn fern waren die Wurzeln, und nieder schwankten die Äste,
Welche, lang und groß, Charybdis mit Schatten bedeckten.«

Charybdis ließ sich sehr viel Zeit und Homer muss auch lange nachgdacht haben, bis er den passenden Vergleich finden konnte, um klar zu machen, wie unerträglich und quälend die Langeweile war, die Odysseus zu ertragen hatte, bis er endlich aus seiner Lage befreit war.

»Also hielt ich mich fest an den Zweig, bis der Kiel und der Mastbaum
Wieder dem Strudel entflögen; und endlich nach langem Harren
Kamen sie. Wann zum Mahle der Richter aus der Versammlung
Kehrt, der viele Zwiste der hadernden Jüngling’ entschieden;
Zu der Stund’ entstürzten Charybdis’ Schlunde die Balken.«

Tatsächlich: Homer sieht als Inbegriff qualvollen Wartens die Lage eines Richters, der eine am frühen Morgen eröffnete Sitzung bis an die Grenze der Abendessenszeit zu leiten und die ihn offenbar langweilenden Streitigkeiten der Leute zu entscheiden hat. Ich denke, wer jemals den Vorsitz in einer Gerichtssitzung zu führen hatte, wird, wenn er diese Zeilen in der Odyssee liest, sich freuen, dass die Anerkennung des stillen Heldentums in unseren Gerichtssälen schon so früh einen so schönen und wahren Ausdruck in der abendländischen Literatur gefunden hat.

*Odyssee, 12. Gesang 432-442, Übersetzung Voss, im Internet mit griechischem Originaltext zu finden unter https://www.gottwein.de/Grie/hom/od12.php

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