4164

Neue Beiträge

Totenklage. Für Wulf Kirsten (15.12.22)

Die meisten Philosophen und auch die christliche Lehre raten gegenüber dem Tod zu einer Haltung der Gelassenheit, des Einverständnisses mit dem schlechthin Unvermeidlichen. Das Christentum versucht uns damit zu trösten, dass der Tod nichts als ein Schlaf sei, eine schön verträumte Zwischenstation auf dem Weg zum ewigen Leben. Wenn wir das alles wirklich glauben würden, dann, müsste man ja eigentlich sagen, ist mit dem Sterben soweit alles in Ordnung und wir haben weiter nichts zu beweinen.

Aber wir wissen es besser: Spätestens, wenn wir erfahren, dass wir tatsächlich Abschied nehmen müssen, sind wir – allem Trost zum Trotz – unendlich verzweifelt. Das ist uns als Menschen eingeschrieben, und seit der Klage Achills um seinen Freund Patroklos in Homers Ilias kennt die abendländische Literatur die Totenklage als eigenes lyrisches Genre.

Der walisische Dichter Dylan Thomas (1914–1953) schrieb sein Gedicht „Do not go gentle into that good night“ beim Tode seines Vaters. Er stellt sich vor, sein Vater sitze auf dem Grabhügel, milde und gelassen lächelnd. Und diese gelassene Haltung macht den Sohn zornig. Die Botschaft ist: Niemand liebt die Todesnacht, weder der Weise noch der Tugendhafte, nicht der Dichter und nicht der Forscher. Wenn wir den „Tod des Lichts“ schon nicht besiegen können, dann wollen wir wenigstens wütend auf ihn sein, ihn hassen, verfluchen und gegen ihn rasen und toben bis zum letzten Atemzug.

Dylan Thomas: Do not go gentle into that good night

Do not go gentle into that good night,
Old age should burn and rave at close of day;
Rage, rage against the dying of the light.

Though wise men at their end know dark is right,
Because their words had forked no lightning they
Do not go gentle into that good night.

Good men, the last wave by, crying how bright
Their frail deeds might have danced in a green bay,
Rage, rage against the dying of the light.

Wild men who caught and sang the sun in flight,
And learn, too late, they grieved it on its way,
Do not go gentle into that good night.

Grave men, near death, who see with blinding sight
Blind eyes could blaze like meteors and be gay,
Rage, rage against the dying of the light.

And you, my father, there on the sad height,
Curse, bless me now with your fierce tears, I pray.
Do not go gentle into that good night.
Rage, rage against the dying of the light.

Dylan Thomas: Geh nicht gelassen in die große Nacht

Geh nicht gelassen in die große Nacht,
Sei wütend, brenne, Alter, wenn der Tag sich neigt,
Tobe und rase und verfluch den Tod des Lichts!

Die Weisen wissen: Das Dunkel ist im Recht,
Denn ihre Worte haben nichts erhellt, und doch:
Sie gehen nicht gelassen in die große Nacht.

Die Guten, wenn die letzte Welle kommt, sie schrein,
Weil ihre guten Taten untergingen in den Ozeanen, sie
Toben und rasen und fluchen auf den Tod des Lichts.

Und die es wild getrieben haben und die Sonne
Fangen wollten und nun bedauern, dass sie untergeht,
Sie gehen nicht gelassen in die große Nacht.

Und Männer, die dem Grab schon nahe sind und blind,
Wenn sie bemerken, dass auch blinde Augen Meteore blitzen sehen,
Sie toben und rasen und fluchen auf den Tod des Lichts.

Und du, mein Vater, auf dem Sterbehügel,
Fluche, segne mich mit deinen Tränen, ich bitte Dich:
Geh nicht gelassen in die große Nacht,
Tobe und rase, Fluch dem Tod des Lichts.

 

Textsuche

Neben der freien Textsuche und dem Schlagwortregister besteht an dieser Stelle die Möglichkeit, die Suche nach bestimmten Texten weiter einzugrenzen. Sie können die Suchfelder »Schlagwort« und »Jahr« einzeln oder in Kombination mit den anderen beiden Feldern verwenden. Um die Suche auszulösen, drücken Sie bitte die Enter-Taste; zum Auffinden der jeweiligen Textstelle benutzen Sie bitte die Suchfunktion Ihres Browsers.