Partisanen 4.0 – Rechtsbruch für einen guten Zweck? (01.12.22)
Es ist eine sonderbare Debatte, die gegenwärtig das öffentliche Interesse beschäftigt: Ob man Gesetze einhalten muss? Versteht sich das nicht von selbst? Nicht für manche Klimaaktivisten. Sachbeschädigung und Nötigung sind für sie Straftaten, deren Begehung geradezu notwendig ist, um die Verwüstung unseres Planeten zu stoppen. Andere, wie zum Beispiel ein ehemaliger Verkehrsminister, der in seiner Amtszeit weder durch übertriebene Rechtstreue noch als Umweltfreund auffiel, fordern nun, die Leute von der »Letzten Generation« möglichst lange als »Kriminelle wegzusperren«, am besten wohl schon vorsorglich.
Wozu gibt es überhaupt Recht, fragt man sich. Gewiss doch nicht deshalb, um den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu geben, ihre Meinungsverschiedenheiten durch gezielten Rechtsbruch und völlig überzogene Drohungen auszutragen.
Recht ist ein Teil menschlicher Kultur, mindestens so schützenswert wie Kunst und Wissenschaft. Man braucht Gesetze und übrigens auch Gerichte, weil Recht und Gerechtigkeit von der Natur nicht mitgeliefert wurden. Anders als für die physische Welt gibt es für die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Menschen keine natürlichen, also von selbst wirkenden Gesetze. Das Recht wird daher von Menschen, gleichsam künstlich, geschaffen. Und es ist deshalb niemals vollkommen, auch wenn sich Gesetzgeber und Gerichte alle Mühe geben. Das Recht ist aber doch zu einem gar nicht so geringen Teil offenkundig gerecht, nämlich, wenn es Regeln ausspricht, die tief im Rechtsgefühl und in der Rechtsgeschichte ankern und ohne die ein Leben in Gesellschaft nicht möglich wäre. Diese elementaren Regeln, die in nahezu allen Rechtskulturen der Menschheit gelten, leiten sich aus der anthropologischen Einsicht ab, dass Menschen nicht allein leben können und das Leben in Gesellschaft die Achtung bestimmter Tabus fordert: Verbot von Körperverletzung, Beleidigung, Nötigung, Sachbeschädigung, Vergewaltigung, Mord, Diebstahl, Betrug, Urkundenfälschung etc. Wie wichtig diese Gesetze sind, erkennt man spätestens dann, wenn man selbst verletzt, bedroht, betrogen oder bestohlen wird.
Da natürlich kein Mensch weiß, wie perfekte Gerechtigkeit für alle aussieht, haben alle Gesetze Fehler, Lücken, Widersprüche etc. Allerdingss sagt die Erfahrung, dass Gemeinschaften von Menschen, wenn sie keine – selbst unvollkommene – von allen anerkannten Gesetze haben, sich in Racheorgien, Gewalt und Willkür auflösen. Deshalb ist die Achtung vor dem Gesetz nicht irgendein konservativer Spleen, sondern elementar wichtig.
Das gilt, obwohl der Gesetzesgehorsam als Prinzip eine Schwäche hat: Er funktioniert nur, solange sich auch die Staatsmacht daran bindet. In dem Moment, wo sie, wie in Diktaturen, sich selbst gezielt über Recht und Gerichte hinwegsetzt, kündigt sie die Grundlage der Pflicht zum Gesetzesgehorsam auf. Von solchen Verhältnissen sind wir in Deutschland heute zum Glück weit entfernt.
Dass man die Gesetze befolgen muss, nach denen Straßenblockaden und die Beschädigung von Kunstwerken strafbar sind, bestreiten die meisten Klimaaktivisten gar nicht. Sie wissen, dass sie dem Klima keinen unmittelbaren Hilfsdienst erweisen, wenn sie sich mit klimaschädlichen Klebemitteln festkleben, Kunstwerke zerstören und Verkehrsstaus povozieren. Sie tun bewusst Unrecht und wollen gerade durch den offenen Gesetzesbruch öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen. Sie sind Partisanen 4.0: Ihre Waffen sind nicht Kalaschnikow und Handgranate, sondern die Schädigung ihrer Mitbürger, ferner Ketchup, Kartoffelpüree und eine hashtag-taugliche moralische Krawallrhetorik.
Sollte man sie deshalb schon vorsorglich einsperren, wie es manche fordern? Und die Gesetze verschärfen? Ich denke nicht. Denn ihr Unrecht besteht nicht in ihren Zielen, sondern in ihren Taten, für die auch sonst niemand vorsorglich »weggesperrt« wird: Andernfalls würden die Vollzugsanstalten schon von gewöhnlichen Sprayern und Anlagebetrügern aus den Nähten platzen. Sollte man die »Letzte Generation« umgekehrt wegen ihrer schönen Ziele besonders milde und liebevoll behandeln? Und ihnen z.B., wie es manche Blockierer fordern, ein Recht einräumen, behutsam von der Straße getragen zu werden? Nein. Keinesfalls. Sie müssen vielmehr genau so behandelt werden, wie jeder andere, der die gleichen Taten begeht: Wie das Gesetz es befiehlt.
Das Problem, ob man sich an Gesetze halten muss, deren Verletzung man für moralisch gerechtfertigt hält, ist übrigens alt. Vor rund 250 Jahren schrieb der französische Philosoph Denis Diderot eine als familiäre Plauderei verkleidete, sehr kurze Abhandlung mit dem Titel: »Gespräch eines Vaters mit seinen Kindern über die Frage, ob man Gesetze immer einhalten muss.« Darin schildert der Vater verschiedene Situationen, in denen der Konflikt auf die Spitze getrieben ist: Muss ein Arzt einen lebensgefährlich verletzten Mörder behandeln? Darf ein Notar ein offenkundig ungerechtes Testament verschwinden lassen? Darf ein Privatmensch gegen alles staatliche Recht eine Privatpolizei und ein Privatgericht betreiben, um für Ordnung zu sorgen? Wer dem Verlauf des Gesprächs aufmerksam folgt, ist immerzu hin- und hergerissen. Am Schluss sagt einer der Söhne zum Vater: Ob es nicht so sei, dass Gesetze immer auch Ausnahmen zuließen und dass die Aufgabe des Weisen darin bestehe, herauszufinden, ob ein Ausnahmefall vorliege. Und der Vater antwortet:
»Es würde mich nicht verdrießen, wenn in der Stadt zwei oder drei Bürger so klug wären wie du. Aber ich möchte nicht darin wohnen, wenn alle so dächten.«
Das heißt: Ausnahmen gibt es immer, aber man kann die Dinge nicht auf den Kopf stellen. Der Gesetzesbruch kann niemals Regel oder Gewohnheit sein. Und schon gar nicht in einem demokratischen Rechtsstaat, wo man alle Möglichkeiten hat, seinen Ansichten Gehör zu verschaffen. Man muss sich nicht auf die Straße kleben, mit Tomatensuppe auf Bilder werfen, Impfausweise fälschen usf., um seinem Herzen Luft zu machen. Im Gegenteil. Die Regel lautet, dass man Auseinandersetzungen in einem rechtlich organisierten Staat nicht mit Rempeleien, Zerstörungen, Fälschungen und Blockaden, sondern im Gespräch, in den Medien, mit Demonstrationen und notfalls vor Gericht führt. Das dauert zwar länger, wohl wahr, aber es gibt auch weniger Verletzte. Und genau das ist der Sinn des Rechts.