Prozess in Paris
– Wie gerne würde ich weinen an Deiner Brust! –
Christoph Schmitz-Scholemann
Erstsendung am 4. November 1996, 23.00–24.00 Uhr
Süddeutscher Rundfunk, S 2 Kultur
E: Erzähler
M 1: erste männliche Stimme (ernst, älter)
M 2: zweite männliche Stimme (jünger, am besten Franzose, der sehr gut, aber nicht ganz akzentfrei Deutsch spricht)
F: junge Frauenstimme
Alle zitierten Texte entstammen der im Hanser-Verlag erschienenen Ausgabe der Sämtlichen Werke Charles Baudelaires (Charles Baudelaire: Sämtliche Werke/Briefe in 8 Bänden. Herausgegeben von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. München, Wien 1977).
M 1:
Prozeß in Paris
F:
Wie gerne würde ich weinen an Deiner Brust!
Erstes Kapitel: Die Präsidentin bekommt einen Brief.
E:
Am 9. Dezember 1852 kam ein Bote in die Rue Frochot. Er brachte einen Brief, gerichtet an die Dame des Hauses, Aglae-Apollonie Sabatier. Der Brief hatte folgenden Wortlaut:
M 2:
Die Person, der die nachfolgenden Verse gewidmet sind, wird untertänigst und inständig gebeten, sie niemandem zu zeigen … Die innigen Gefühle besitzen eine eigene Scham, die nicht verletzt werden will. … Der Schreiber dieser Verse hat sie glühend geliebt, ohne es ihr je zu sagen, und wird ihr allezeit die zärtlichste Zuneigung bewahren …
E:
Der Brief war nicht unterschrieben, enthielt aber ein seltsames Gedicht mit der Überschrift A CELLE QUI EST TROP GAIE – FÜR DIE ALLZUFRÖHLICHE, das in deutscher Prosa so lautet:
M 2:
Dein Haupt, deine Gebärde, dein Betragen sind schön wie eine schöne Landschaft; das Lachen spielt in deinem Antlitz wie frisch ein Wind in einem klaren Himmel.
Den Kummervollen, den du im Vorübergehen streifst, trifft blendend die Gesundheit, die als Helle von deinen Armen und von deinen Schultern strahlt.
Die lauten Farben, die du über deine Gewandung streust, wecken im Geist des Dichters das Bild eines Blumenballetts.
Diese närrischen Kleider sind das Sinnbild deines buntscheckigen Geistes; Närrin, nach der ich närrisch bin, ich hasse dich so sehr, wie ich dich liebe.
Manchmal in einem schönen Garten, wohin mich meine Schlaffheit schleifte, zerriß die Sonne mir wie bitterer Hohn die Brust:
Der Frühling und das Grün kränkten mein Herz so sehr, daß ich die Frechheit der Natur an einer Blume strafte.
So auch möchte ich eines Nachts, wenn die Stunde der Wollüste schlägt, zu deines Leibes Schätzen wie ein Feigling lautlos schleichen,
Um dein frohes Fleisch zu züchtigen, um deine verschonte Brust zu geißeln und deiner überraschten Flanke eine klaffend tiefe Wunde zu schlagen.
Und, süß taumelnder Rausch! durch diese neue Lippen, heller und schöner leuchtende, mein Gift dir einzuflößen, meine Schwester!
E:
Aglae-Apollonie Sabatier war eine hinreißend schöne Frau, wovon man sich noch heute überzeugen kann; ihre Büste steht im Louvre und glänzt wie ein antiker Marmor, von der reinsten und köstlichsten Form. Sie war die illegitime Tochter einer Wäscherin und eines Provinzpräfekten und lebte als Mätresse eines belgischen Bankiers in Paris. Der Bankier war viel unterwegs und überdies ein großzügiger Mann; so wurde seine zauberhafte Freundin in ihrer entzückenden Wohnung am Fuß des Montmartre der Mittelpunkt eines Kreises von Künstlern. Zu ihnen gehörtem die Großen dieser Jahre, Theophile Gautier, Alfred de Musset, Gustave Flaubert, Alexandre Dumas … Man malte Madame Sabatier in Öl, modellierte sie in Stein und träumte in Versen von den Freuden, die ihre schwindelerregende Schönheit versprach. Der Zauber, der sie umschwebte, schien sie zugleich vor handfesteren männlichen Begehren zu schützen, sie war fast mehr Madonnenbild als Frau, eine Ikone beinahe, zur Fernverehrung wie geschaffen. Man nannte sie die Präsidentin. Im Mai 1853 meldete sich der anonyme Briefschreiber wieder, diesmal auf Englisch:
M:
»After a night of pleasure and desolation, all my soul belongs to you.«
E:
Einige Tage später schreibt er aus Versailles
M 2:
»Im Ernst, Madame, ich bitte Sie vieltausendmal um Verzeihung wegen der stupiden anonymen Verseschmiederei, die so gräßlich kindisch wirkt. Aber was tun? Ich bin ein Egoist wie die Kinder und die Kranken. … Aber ich schwöre Ihnen, daß dies wirklich das letzte Mal ist …«
E:
Natürlich ist es nicht das letzte Mal. Es folgt Brief auf Brief, über Wochen, über Monate, über Jahre, bis, eines Tages …
M 1:
Zweites Kapitel: Bebe
E:
Aglae-Apollonie Sabatier hatte eine Schwester namens Bebe. Eines Tages traf Bebe auf einem Spaziergang einen Dichter. Sie kannte ihn von den Abendgesellschaften in der Rue Frochot: als eines der von Halbwelt, Tragik und Erfolglosigkeit umdüsterten Genies, die in den Salons so unentbehrlich sind, scheinen sie doch keine andere Bestimmung zu haben als die, einen flackernden Schattensaum zu bilden um die Großen des Tags und die Schönen der Nacht. Nun denn: Man sah sich, man erkannte sich, und, zum Schrecken des übrigens durchaus gepflegten, wenn auch nicht schönen Mannes in den Dreißigern, brach Bebe in schallendes Gelächter aus:
F 1:
Sind Sie immer noch in meine Schwester verliebt, und schreiben Sie ihr immer noch so prächtige Briefe?
E:
Nach diesem Spaziergang verstummte der arme Poet; aber nur für eine gewisse Zeit. Der Prozeß der Annäherung an das Idol war durchaus nicht zu Ende, ja er hatte noch gar nicht wirklich begonnen. Der taumelnde Rausch, die Stunde der Lust und die tiefen Wunden, das sollte alles noch kommen. Und es begann – wie sonderbar! – mit einem ziemlich gehässigen Zeitungsartikel, dessen einziger Zweck es war, unseren Dichter zu verletzen.
M 1:
Drittes Kapitel: Dies und das
E:
Am 5. Juli 1857 erschien im Figaro unter der Überschrift Ceci et Cela die Rezension eines Gedichtbandes, der zwei Wochen vorher mit niedriger Auflage und hohem Preis in die Pariser Buchhandlungen gekommen war. Der Titel des Buches: Les Fleurs du Mal – Blumen des Bösen. In der Rezension heißt es über Buch und Autor:
M 1:
Noch nie hat man so glänzende Gaben so töricht vergeuden sehen. Es gibt Augenblicke, da man an Herrn Baudelaires Verstand zweifelt; und andere, da man nicht mehr zweifelt…Hier findet man das Niedrige Seite an Seite mit dem Widrigen, das Abstoßende im Verein mit dem Ekelerregenden. Noch nie hat man auf so wenigen Seiten in soviel Brüste beißen und sie gar zerkauen sehen; noch nie hat man einer solchen Heerschau von Dämonen, Fötussen, Teufeln, Chlorosen, Katzen und Gewürm beigewohnt … wenn die Einbildungskraft eines Dichters sich, was man begreifen kann, mit zwanzig Jahren zur Behandlung derartiger Themen hinreißen läßt, so kann doch nichts einen Mann über dreißig rechtfertigen, daß er dergleichen Ungeheuerlichkeiten durch ein Buch an die Öffentlichkeit gebracht hat.
E:
Zwei Tage später wandte sich das Innenministerium an den Generalstaatsanwalt und gab sich
M 1:
die Ehre, Ihre Aufmerksamkeit auf ein Buch zu lenken, das Herr Charles Baudelaire soeben unter dem Titel Les Fleurs du Mal veröffentlicht hat …
E:
Zur Begründung heißt es, einige der Gedichte enthielten Gotteslästerungen, andere böten den Ausdruck der abstoßendsten Geilheit.
M 1:
Kurz, Herrn Baudelaires Buch ist eine jener krankhaften, tief unsittlichen Veröffentlichungen, die Aussicht auf einen Skandalerfolg haben.
E:
Der Generalstaatsanwalt fackelte nicht lange. Baudelaire und sein Verleger Poulet-Malassis wurden einbestellt und vom Untersuchungsrichter verhört. Dichter und Verleger versuchten, die öffentliche Meinung auf ihre Seite zu ziehen. Freunde mit guten Verbindungen zu den Feuilletons schrieben positive Rezensionen – aber es wurde kaum etwas davon gedruckt, einige sanfte Winke aus dem Ministerium reichten, um die Zeitungsherausgeber verstummen zu lassen. Baudelaire schrieb an Prosper Merimée, der damals in hohem Ansehen stand und, wie man sagte, das Ohr der Kaiserin hatte. Merimée antwortete nicht, und er wurde auch nicht bei der imperatrice vorstellig. In einem Brief an eine Freundin verriet Merimée, wie man bei Hofe über Baudelaire dachte:
M 1:
»Ich habe keine Schritte unternommen, um den von Ihnen erwähnten Dichter vor dem Verbranntwerden zu bewahren, außer daß ich dem Minister sagte, andere verdienten noch eher verbrannt zu werden. Sie meinen doch wohl das unter dem Titel Les Fleurs du Mal erschienene Buch, in dem sich einige Funken Poesie finden, wie sie bei einem armen Burschen vorkommen mögen, der das Leben nicht kennt und seiner überdrüssig ist, weil eine Nähmamsell ihn betrogen hat!«
E:
Nun, es war keine Nähmamsell, die am Dienstag, den 18. August 1857 einen Brief erhielt, es war die Präsidentin.
M 1:
Viertes Kapitel: Il me manque une femne
M 2:
Chére Madame,
Sie haben nicht eine Sekunde lang geglaubt, ich hätte Sie vergessen können, nicht wahr? Sofort bei Erscheinen habe ich Ihnen ein erlesenes Exemplar reserviert … Können Sie sich vorstellen, daß die Schufte (ich meine den Untersuchungsrichter, den Staatsanwalt usw.) sich erfrecht haben, … zwei Gedichte in die Anklage einzubeziehen, die ich für mein Idol verfaßt hatte (Ganz und Gar, Nr. 61 und Für die Allzufröhliche, Nr. 39)?
Heute schreibe ich zum ersten Mal mit meinem vollen Namen. Wenn ich nicht von so vielen geschäftlichen Dingen und Briefen bedrängt wäre (übermorgen ist die Gerichtssitzung), würde ich diese Gelegenheit benutzen, um Sie wegen meiner vielen Narrheiten und Kindereien um Verzeihung zu bitten. Aber haben Sie sich, genau besehen, nicht schon hinlänglich gerächt, vor allem durch Ihre kleine Schwester? Ach, dieses kleine Ungeheuer … Es hat mich eiskalt überlaufen, … als sie mir eines Tages sagte: ›Sind Sie immer noch in meine Schwester verliebt …?‹ … Die Schelme sind verliebt, aber die Dichter vergöttern, und Ihre Schwester scheint mir wenig Talent zu besitzen, um die ewigen Dinge zu begreifen … Es ist gar nicht möglich, Sie zu vergessen. Es wird versichert, gewisse Dichter hätten ihr ganzes Leben lang unverwandt den Blick auf ein geliebtes Bild gerichtet. Ich glaube tatsächlich (aber ich bin dabei zu selbstsüchtig), daß die Treue ein Merkmal des Genies ist … Am vergangenen Donnerstag habe ich meine Richter gesehen. Ich will nicht behaupten, sie seien nicht schön; sie sind ganz abscheulich häßlich; und ihre Seele gleicht bestimmt ihrem Gesicht. Flaubert hatte die Kaiserin auf seiner Seite. Mir fehlt eine Frau. Und vor ein paar Tagen hat sich plötzlich der ausgefallene Gedanke meiner bemächtigt, Sie könnten vielleicht durch Beziehungen und auf möglicherweise komplizierten Umwegen einem jener Dickschädel ein vernünftiges Wort eintrichtern. Der Termin ist übermorgen vormittag, am Donnerstag. Die Ungeheuer heißen:
Präsident DUPAT
Kaiserlicher Staatsanwalt PINARD (zu fürchten)
Richter DELESVAUX
dito DE PONTON D’AMECOURT
dito NACQUART
6. Strafkammer
Ich will alle diese Trivialitäten beiseite lassen. Leben Sie wohl, chére Madame, ich küsse Ihre Hände mit meiner tiefsten Ergebenheit.
Charles Baudelaire
E:
Ob chére Madame dem Dichter half?
M 1:
Fünftes Kapitel: Das Tribunal
E:
20. August 1857, Paris, Tribunal de la Seine. Einen hohen Saal dürfen wir uns vorstellen, ferner den Geruch nach Bohnerwachs und Aktenstaub und altem Holz, dumpfes Gemurmel und dann plötzliche Stille, als die Richter den Saal betreten, vergrößerte Augen hinter funkelnden Monokel-Gläsern, Verlesung der Anklageschrift, Befragung der Angeklagten: Baudelaire macht auf die Richter einen sympathisch-verwirrten Eindruck. Er sieht nicht eigentlich gefährlich aus, aber sonderbar bis zur Unheimlichkeit. Es folgt das Plädoyer des Kaiserlichen Staatsanwalts Ernest Pinard, nachmaligen Innenministers, und schließlich die Verteidigungsrede des Advokaten Gustave Chaix-d’Est-Ange.
Der Staatsanwalt:
M 1:
Ein Buch vor Gericht zu ziehen, weil es gegen die öffentliche Moral verstößt, ist stets eine heikle Angelegenheit. Führt das Verfahren zu keiner Verurteilung, so bereitet man dem Verfasser einen Erfolg, ja fast ein Piedestal; er triumphiert und man hat ihm gegenüber den Schein des Verfolgers auf sich genommen … Und dennoch, meine Herren, zögere ich nicht, mich dieser Aufgabe zu unterziehen. Nicht über den Menschen sollen wir ein Urteil sprechen, sondern über sein Werk; nicht das Ergebnis des Strafantrags interessiert mich hier, sondern einzig und allein die Frage, ob er mit Grund erfolgt oder nicht. Charles Baudelaire gehört keiner Schule an. Er steht ganz auf sich selber. Sein Grundsatz, seine Theorie ist, alles darzustellen, alles bloßzulegen. Er wird die menschliche Natur bis in ihre heimlichsten Schlupfwinkel durchforschen …
E:
Der Verteidiger:
M 2:
Charles Baudelaire ist nicht nur der große Künstler, der tiefe und leidenschaftliche Dichter, dessen Talent vor der Öffentlichkeit anzuerkennen der ehrenwerte Vertreter der Staatsanwaltschaft selber für angebracht hielt. Er ist mehr: er ist ein aufrechter Mensch, und darum ist er ein überzeugter Künstler. Sein Werk ist die Frucht reiflicher Überlegung, die Frucht von mehr als acht Jahren Arbeit; er hat es mit Liebe in seinem Geist getragen und es reifen lassen, wie eine Mutter in ihrem Leib das Kind ihrer Zärtlichkeit trägt … Und jetzt werden Sie die wirkliche Verzweiflung und den tiefen Schmerz dieses aufrichtigen und überzeugten Schöpfers begreifen, der, auch er, seinem Werk die Worte hätte voranstellen können: »Dieß ist ein Puch des guten Glaubens.« … Er hat alles schildern wollen, hat Ihnen der Vertreter der Anklage gesagt, er hat alles entblößen wollen … wo liegt da die Schuld, ich bitte Sie…worin kann das Verbrechen bestehen, wenn er das Böse übertreibt, um es zu brandmarken, wenn er das Laster mit starken, packenden Tönen schildert, weil er Ihnen einen desto tieferen Haß dagegen einflößen möchte? …
E:
Und wieder der Staatsanwalt:
M 1:
Und was halten Sie von diesen drei Strophen des Gedichts Nr. 39 …
E:
Nr. 39, das war das Gedicht »Für die Allzufröhliche«, das erste Gedicht an Madame Sabatier.
M 1:
… des Gedichts Nr. 39, wo der Liebhaber seine Geliebte folgendermaßen anredet:
So auch möchte ich eines Nachts, wenn die Stunde der Wollüste schlägt, zu deines Leibes Schätzen wie ein Feigling lautlos schleichen,
Um dein frohes Fleisch zu züchtigen, um deine verschonte Brust zu geißeln und deiner überraschten Flanke eine klaffend tiefe Wunde zu schlagen
Und, süß taumelnder Rausch! durch diese neuen Lippen, heller und schöner leuchtende, mein Gift dir einzuflößen, meine Schwester!
Von Seite 187 bis Seite 197 sind die beiden Gedichte Nr. 80 und 81, mit den Überschriften ›Lesbos‹ und ›Die verdammten Frauen‹ … zu lesen. Sie finden dort bis in die allerintimsten Einzelheiten das Treiben der Lesben geschildert.«
M 2:
Und was die »Verdammten Frauen« betrifft, die der Vertreter der Staatsanwaltschaft die beiden Lesben genannt hat!!!, was einen drastischen Sprachgebrauch bekundet … und wir unsrerseits hätten es gewiß niemals gewagt, uns solcher Worte vor dem hohen Gerichtshof zu bedienen – was also die »Verdammten Frauen« betrifft, denn ich bitte um die Erlaubnis, den Ausdruck meines Klienten dem des Herrn Staatsanwalts vorzuziehen –, so hören Sie folgende Strophen:
Beim bleichen Lichtschein matter Lampen, auf tiefen, ganz von Duft durchtränkten Kissen, sann Hippolyta den machtvollen Liebkosungen nach, die den Schleier ihrer jungen Unschuld hoben.
Mit sturmverstörtem Auge suchte sie ferne ihrer Einfalt schon entrückten Himmel, wie ein Reisender das Haupt noch einmal wendet nach den blauen Horizonten, die er in der Frühe hinter sich gelassen.
Der erloschenen Augen trägquellende Tränen, die Gebrochenheit, die Starre, die düstre Lust, ihre besiegten Arme, hingeworfen wie eitle Waffen, alles steigerte, alles schmückte ihre zerbrechliche Schönheit …
M 1:
… Meine Herren, ich glaube genügend Stellen angeführt zu haben, um behaupten zu können, daß hier ein Verstoß gegen die öffentliche Moral vorliegt. Entweder gibt es kein Schamgefühl, oder die Grenze, die es vorschreibt, wurde hier dreist überschritten. Als erstes wird man mir entgegenhalten: ›Es handelt sich um ein trauriges Buch … heißt es nicht Fleurs du Mal? Sehen Sie eine Lehre darin, statt eine Beleidigung …‹ Eine Lehre! Das Wort ist rasch gesagt. Aber hier entspricht es nicht der Wahrheit. Glaubt man, es sei bekömmlich, die schwindelerregenden Düfte gewisser Blumen einzuatmen? Das Gift, das sie mit sich führen, hat nichts Abschreckendes; es steigt zu Kopf, es betäubt die Nerven, es erregt Verwirrung und Taumel, es kann tödlich sein … Wer wüßte nicht, wie leicht der Leser an geilen Unziemlichkeiten Gefallen findet, ohne sich um die Lehre zu kümmern, die der Verfasser hineinlegen.
Ein zweiter Einwand ist erhoben worden: man hat darauf hingewiesen, daß es in der Vergangenheit manches Buch gegeben hat, das ebensosehr gegen die öffentliche Moral verstieß und das nicht verfolgt wurde. Dem halte ich entgegen, daß, de jure, dergleichen Präzedenzfälle für die Staatsanwaltschaft keinerlei Verbindlichkeit besitzen, und daß, de facto, es Rücksichten gibt, die oftmals die Enthaltung erklären und sie rechtfertigen … Doch diese Zurückhaltung der Staatsanwaltschaft kann nicht, anderntags, als Argument gegen sie verwendet werden. Wenn die Unmoral der Hervorbringungen sich verschärft, muß sie stets das Laster verfolgen können. … Meine Herren, ich sage Ihnen: Wehren Sie dem Übel, tun Sie etwas … gegen dieses schädliche Fieber … Seien Sie nachsichtig mit Baudelaire, der eine unruhige, schwankende Natur ist … Aber sprechen Sie, indem Sie wenigstens einige Gedichte des Buches verurteilen, eine dringend nötige Warnung aus.
M 2:
Sie aber, meine Herren … Sie werden sich fragen, ob hier wirklich das vorliegt, was das Vergehen der Beleidigung der öffentlichen Moral ausmacht, … indem Sie das Werk Baudelaires … mit dem vergleichen, was Sie alle Tage in unserer modernen Literatur lesen, und ich spreche hier von den berühmtesten Autoren … Gautier, dieser bewunderungswürdige Meister des ausgefeilten Stils …! Gestatten Sie mir, von ihm zu sprechen! Gestatten Sie mir, von diesem stilistischen Meisterwerk zu sprechen, das den Titel Mademoiselle de Maupin trägt … Welche Seite soll ich aufschlagen? Ich habe nur die Qual der Wahl …
»Ja, es war Rosalinde, so schön und strahlend, daß das ganze Zimmer davon hell wurde, mit ihren Perlenschnüren im Haar, ihrem prismatischen Gewand … sie trug weder Brusttuch noch Busenschleier, noch Krause, noch sonst etwas, das den Blicken jene beiden reizenden feindlichen Brüder entzogen hätte … Eine völlig nackte Brust, weiß, durchscheinend, wie ein antiker Marmor, von der reinsten und köstlichsten Form, hob sich verwegen aus einem tief ausgeschnittenen Mieder und schien die Küsse herauszufordern … Sehr bewegt, ergriff d’Albert ihre Hände und küßte jeden Finger, einen um den andern, dann löste er behutsam das Schnürband des Kleides, so daß das Mieder sich auftat und die beiden weißen Kleinode in ihrem vollen Glanz erschienen. Auf dieser schimmernden und silberhellen Brust erblühten die beiden schönen Rosen des Paradieses. Er drückte ihre roten Spitzen leicht mit seinem Mund und wanderte mit den Lippen darüber hin; mit unerschöpflicher Gefälligkeit ließ Rosalinde ihn gewähren … Sie in die Arme schließend, bedeckte er die nackten Schultern und die Brust mit seinen Küssen. Die Haare der halb ohnmächtigen Infantin lösten sich, und wie mit einem Zauberschlage sank das Gewand auf ihre Füße …«
Ich halte inne, meine Herren, und ich will Ihre Zeit nicht länger mißbrauchen. Ich habe Ihnen gesagt, wer Baudelaire ist und was seine Absichten sind … ich bin der zuversichtlichen Überzeugung, daß Sie diesen Ehrenmann und diesen großen Künstler nicht treffen wollen, und daß Sie ihn vorbehaltlos freisprechen werden.
E:
Es war ein raffinierter Schachzug des Staatsanwalts, Baudelaires persönliche Integrität nicht in Zweifel zu ziehen; damit nahm er ihm die doch so tief ersehnte Märtyrerrolle. Aber auch der Verteidiger traf durchaus einen schwachen Punkt der Anklage, wenn er ihr vorwarf, mit zweierlei Maß zu messen: die schlüpfrige Herrenliteratur des Tages ließ der Staat passieren, und dem ernsten, bitteren Herrn Baudelaire machte man den Prozeß wegen fünf oder zehn sogenannter »Stellen«.
Die Plädoyers verrieten also durchaus Niveau und taktisches Geschick – und doch: Ein süß taumelnder Rausch aus dem Munde des kaiserlichen Staatsanwaltes, duftdurchtränkte Kissen im Plädoyer eines Advokaten – wir spüren auf Schritt und Tritt: Da paßte etwas nicht zusammen. Die Justiz fragt nach Recht und Gesetz, vielleicht auch nach Moral im Sinne herrschender Sitten, ihr Maßstab ist die Konvention, niemals geht sie nach Schönheit. Und Schönheit war das einzige, was Baudelaire erstrebte; ihm ging es nicht um den gemeinen Nutzen, seine Absicht war es, Blumen zu schaffen, böse, schwarze, schrecklich schöne Gebilde, eben Kunst, aber keineswegs sollte sein Buch ein Katechismus mit abschreckenden Beispielen zur Warnung vor dem Laster sein, wie der Verteidiger meinte, und erst recht keine Erregungshilfe, wie es die trübe Phantasie des Staatsanwalts sich ausmalte. Die Justiz ist, wenn sie sich der Kunst annimmt, eine scheußliche Maschine: Ob düstere Lust, ein Blumenballett oder blaue Horizonte – vor dem Gesetz liegt alles flach, das eine rechts, das andre links der Norm, verurteilt oder freigesprochen, das ist nahezu egal, die Poesie hat immer schon verloren, wenn sie beim Thron des Rechts erscheinen muß.
M 1:
Sechstes Kapitel: Das Urteil der 6. Kammer
E:
… erging noch am selben Tage, am Ende der mündlichen Verhandlung nach einer Beratungspause. Hatte die Präsidentin etwas für den Dichter tun können? Es ist nicht wahrscheinlich. Baudelaire und seine beiden Verleger wurden zwar vom Vorwurf der Verletzung der religiösen Moral freigesprochen, aber:
M 1:
Hinsichtlich der Beleidigung der öffentlichen Moral und der guten Sitten:
In Erwägung, daß der Irrtum des Dichters, in der Verfolgung seines Zieles und auf dem dabei eingeschlagenen Wege, unerachtet seiner stilistischen Bemühungen, unerachtet auch des Tadels, der seinen Schilderungen vorausgeht oder folgt, nicht danach angetan sein kann, die verderbliche Wirkung der dem Leser vorgeführten Bilder aufzuheben, welche in den inkriminierten Stücken durch einen das Schamgefühl verletzenden krassen Realismus notwendigerweise zur Aufreizung der Sinne führt; in Erwägung, daß Baudelaire, Poulet-Malassis und Debrois sich des Vergehens der Beleidigung der öffentlichen Moral schuldig gemacht haben: Baudelaire dadurch, daß er das Les Fleurs du Mal betitelte Werk, welches obszöne und unmoralische Stellen oder Ausdrücke enthält, veröffentlichte …
E:
wurde Baudelaire zu einer Geldstrafe von 300 Francs verurteilt, erging die Anordnung, daß die Stücke mit den besagten Stellen – dazu gehörte auch das Gedicht Nr. 39 »Für die Allzufröhliche« – getilgt würden, und wurden die Angeklagten, was sie am meisten bedrückte, zur gemeinsamen Erstattung der Gerichtskosten verurteilt.
Baudelaire empfand den Prozeß und das Urteil als eine Schmach. Nicht, daß er von Richtern etwas anderes erwartet hätte:
M 2:
Die Päderastie ist das einzige, was den Richterstand mit der Menschheit verbindet,
E:
pflegte er zu sagen. Aber: Baudelaire glaubte, mit den Fleurs du Mal ein Jahrhundert-Buch geschrieben zu haben, und er hatte gehofft, die Veröffentlichung würde ihm das Tor zum Parnaß der Dichterfürsten aufstoßen oder doch einen Jahrhundert-Skandal produzieren. Stattdessen diese Farce von einem Prozeß!
Ferner: Baudelaire war zwar von Hause aus nicht unvermögend, aber seine Verschwendungslust stürzte ihn von einer Geldverlegenheit in die nächste. Bettelbriefe an die Mutter, Haßtiraden gegen den Bruder und den Stiefvater, die seine Entmündigung betrieben hatten, groteske Auftritte mit Gläubigern – einmal verbrachte Baudelaire Stunden in einem Schrank, um sich vor dem Gerichtsvollzieher zu verstecken – dazu wilde Prügeleien mit seiner schwarzäugigen Gefährtin Jeanne Duval, Alkohol, Opium – das Leben dieses Dichters war eine Katastrophe im bürgerlichen Sinne. Seine Kunstkritiken, seine Essais und seine Übersetzungen der Werke Edgar Allan Poes brachten wenig ein, die Gedichte waren ein Zusatzgeschäft, auch für den treuen Verleger Poulet-Malassis. Der Prozeß, statt daß er den ewig erhofften, befreienden Goldregen gebracht hätte, machte alles schlimmer.
Sehnsucht nach einer lieben Brust, sich daran auszuweinen, mag Baudelaire nach diesem Desaster befallen haben.
M 1:
Siebentes Kapitel: Tröstungen.
Erstens: Victor Hugo
E:
Charles Baudelaire blieb nicht ungetröstet. Er bekam einen Brief aus Guernsey:
M 1:
Ihre Blumen des Bösen strahlen und blenden wie Sterne. Fahren Sie so fort. Ein lautes Bravo Ihrem kraftvollen Geiste! … Eine der seltenen Auszeichnungen, die das herrschende Regime gewähren kann, ist Ihnen zuteil geworden. Was es seine justice nennt, hat Sie verurteilt im Namen dessen, was es seine Moral nennt. Das ist ein Kranz mehr. Ich drücke Ihnen die Hand, Dichter. *Victor Hugo
E:
Baudelaire hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu Hugo. Er bewunderte an ihm Erfindungsreichtum und Sprachgewalt, aber den politischen Idealismus des Großen Alten, der aus Protest gegen das Regime Napoleons des Dritten ins Exil gegangen war, teilte Baudelaire nicht. Baudelaire war kein Demokrat.
In seinem Aufsatz Von den Schulen und den Arbeitern schrieb er:
M 2:
Haben alle die Leser, die beim neugierigen Herumschlendern gelegentlich in einen Aufruhr gerieten, je das gleiche Vergnügen wie ich empfunden, wenn sie einen Hüter des öffentlichen Schlafes … auf einen Republikaner einschlagen sahen? Und haben sie nicht, wie ich, in ihrem Herzen gesprochen: »Hau zu, hau doch ein wenig kräftiger, hau noch einmal, herzlieber Wachtmeister … Der Mann, auf den Du einhaust, ist ein Feind der Rosen und der Wohlgerüche, ein Nützlichkeitsfanatiker; er ist ein Feind Watteaus, ein Feind Raffaels, ein erbitterter Feind des Luxus, der schönen Künste und der schönen Literatur, ein eingeschworener Ikonoklast, ein Henker der Venus und des Apoll! … Er will frei sein, der Ignorant, und er ist unfähig eine Werkstatt für Blumen, eine neue Parfümerie zu gründen. Lasse du nur andächtig deine Schläge niedergehen auf den Buckel des Anarchisten!«
M 1:
Zweite Tröstung: Die Präsidentin
E:
So kühlgemischt also die Taggedanken des frisch verurteilten Charles Baudelaire gegenüber Victor Hugo gewesen sein mögen, seine Nächte in diesem späten Sommer müssen einem heißen Sturm geglichen haben. Er bekam – vielleicht am Morgen nach der Gerichtsverhandlung – eine Nachricht von Madame Sabatier. Sie lud ihn ein. Jahre vorher hatte er ihr das Gedicht Que diras-tu ce soir gewidmet:
M 2:
Was wirst du heute abend, arme einsame Seele, was wirst du, o mein Herz, einst ganz verwelktes Herz, was der Sehr-Schönen, der Sehr-Guten, der Sehr-Lieben, sagen, von deren Götterblick du plötzlich wieder aufgeblüht bist?
– Wir setzen unsern Stolz darein, ihr Lob zu singen: nichts gleicht der Süße ihrer Herrschaft über uns; geistig ihr Fleisch haucht Engels-Duft, ihr Auge umkleidet uns mit einem Lichtgewand.
Ob in Nacht und Einsamkeit, ob auf der Straße in der Menge, immer tanzt ihr Bild wie eine Fackel in der Luft.
Bisweilen spricht es und sagt: »Schön bin ich, und ich befehle, daß mir zu Liebe ihr nur das Schöne liebt; Schutzengel bin ich, Muse und Madonna!
E:
Als Baudelaire bei seiner Madonna erschien, war sie allein. Schlug nun, wie in den Versen »An Jene, die allzu fröhlich ist« die Stunde der Wollüste? Und die der Strafe, der Züchtigung des frohen Fleisches? Madame Sabatier jedenfalls starb hundert kleine Tode vor Glück. Einige Tage später schrieb sie an ihren lieben Charles:
F:
Mir scheint, daß ich Dir gehöre, seit ich Dich zum ersten Mal erblickt habe. Du kannst damit machen, was Du willst, aber ich gehöre Dir, mit Körper, Geist und Herzen.
E:
Und kurz danach:
F:
Heute bin ich ruhiger. Der Einfluß unseres Beisammenseins am Donnerstagabend macht sich stärker geltend. Ich kann Dir sagen, ohne daß Du mich der Übertreibung beschuldigst, daß ich die glücklichste der Frauen bin, daß ich meine Liebe zu Dir niemals tiefer empfunden habe, daß ich Dich niemals schöner gesehen habe, niemals bewunderungswürdiger, mein göttlicher Freund, ganz einfach. Du magst das Rad schlagen, wenn Dir das schmeichelt; aber geh nicht hin und schau, was für ein Gesicht Du machst; niemals wird es Dir gelingen, Dir den Ausdruck zu verleihen, den ich eine Sekunde lang an Dir gesehen habe. Jetzt mag kommen, was will, ich werde Dich immer so sehen, das ist der Charles, den ich liebe; Du magst ungestraft Deine Lippen zusammenpressen und Deine Brauen runzeln, ohne daß mich das kümmert. Ich werde die Augen schließen und den anderen sehen …
E:
Und Baudelaire? Schloß auch er die Augen? In einem der Gedichte, die er noch als Anonymus an die schöne Frau geschickt hatte, heißt es:
M 2:
»Da in ihr alles Balsam ist, kann nichts den Vorrang haben.
Wenn alles mich entzückt, so weiß ich nicht, ob einzeln etwas mich verführt. Sie blendet wie die Morgenröte und tröstet wie die Nacht;
Und allzu köstlich ist die Harmonie, die ihren ganzen schönen Leib regiert, als daß ohnmächtig die Zergliederung die Vielzahl der Akkorde fassen könnte
O mystische Verwandlung all meiner Sinne, der ganz in eins verschmolzenen! Ihr Atem haucht Musik, wie ihre Stimme Duft verströmt!«
E:
Diese Zeilen schrieb Baudelaire, als Apollonie Sabatier noch nicht seine wirkliche Geliebte, sondern nur eine Göttin war. In seinem Brief vom 31. August 1857 klingt ein ganz anderer Ton an:
M 2:
Ich habe die Flut von Albernheiten, die sich auf meinem Tisch angehäuft haben, vernichtet, Sie schienen mir nicht ernst genug für Sie, liebe Liebste. – Ich lese Ihre beiden Briefe nochmals durch und schreibe eine neue Antwort. Dazu brauche ich einigen Mut; denn meine Nerven tun so schrecklich weh, daß ich schreien möchte, und ich bin mit der unerklärlichen seelischen Verstimmung aufgewacht, die ich gestern abend in mir trug, als ich von Ihnen fortging … Es gibt Leute, die einen ins Gefängnis bringen, wenn man seine Wechsel nicht honoriert, aber keiner bestraft den Bruch der Freundschafts- und Liebesschwüre. Darum habe ich Dir gestern auch gesagt: Sie werden mich vergessen; Sie werden mich verraten; der Mensch der Sie erheitert, wird Sie langweilen. – Und heute füge ich hinzu: nur derjenige leidet, der wie ein Narr die Dinge des Gefühls ernst nimmt. – Sie sehen, meine schöne Liebste, ich habe garstige Vorurteile gegen die Frauen. – Kurzum, mir fehlt der Glaube. – Sie haben eine schöne Seele, aber schließlich ist es eine weibliche Seele. … Und schließlich, ja schließlich, warst Du vor ein paar Tagen eine Gottheit, und das ist so bequem und so schön, so unantastbar. Jetzt bist Du Frau …
E:
Bei allem Respekt für Monsieur – das war nicht charmant, es war verletzend und durchaus nicht würdig des wendigen Asphaltflaneurs und ennuyierten Dandys, als den sich Baudelaire sehr gerne sah. Madame Sabatier war tief verwundet, und sie besaß Stil genug, es nicht zu verbergen:
F:
Welche Komödie oder vielmehr welches Drama spielen wir? … Das ist zu fein gesponnen für einen Tölpel wie mich. Stecken Sie mir ein Licht auf, mein Freund, ich will ja nicht mehr, als es begreifen. Welch tödlicher Frost hat diese schöne Flamme angehaucht? … Ich hätte ernst und bedachtsam sein sollen, als Sie zu mir kamen. Doch was wollen Sie? Wenn der Mund bebt und das Herz pocht, fliegen die gesunden Gedanken davon …
Was soll ich denken, wenn ich Dich meine Zärtlichkeiten fliehen sehe, es sei denn, daß Du an die andere denkst, deren schwarze Seele und schwarzes Gesicht sich zwischen uns drängen? … Besäße ich nicht genügend Selbstachtung, ich würde Dich beschimpfen. Ich wollte Dich leiden sehen. Denn die Eifersucht kocht in mir, und in solchen Augenblicken ist man keiner vernünftigen Überlegung fähig …
… soll ich Ihnen sagen, was ich denke? Es ist ein grausamer Gedanke, der mir sehr weh tut. Sie lieben mich nicht … Habe ich nicht den Beweis dafür, in einem Satz Ihres Briefes? Er ist so deutlich, daß er mein Blut gefrieren macht. – Kurzum, mir fehlt der Glaube. – … O mein Gott! was macht dieser Gedanke mich leiden, und wie gerne würde ich an Deiner Brust mich ausweinen …
E:
Dazu kam es nicht mehr, zum Ausweinen. Monsieur Baudelaire und Madame Sabatier begegneten sich noch oft, aber nie allein, der göttliche Charles wußte es zu verhindern. Madame Sabatier kehrte zu ihrem Bankier zurück. Und Baudelaire zu seiner ewigen Haßliebe, der Tänzerin Jeanne Duval, die er vergötterte und verprügelte – und die er pflegte, als sie in Lähmung und Siechtum verfiel, treu bis in den Tod.
Warum weicht einer aus, wenn das lang erträumte Glück in der Tür steht? Hielt die wirkliche Madame Sabatier dem Bild nicht stand, das Baudelaire sich von ihr gemacht hatte? Besaß sie versteckte Mängel? Bauchte sie? Wollte sie Kinder? Hatte er Angst vor dem Zorn seiner Tänzerin? Oder fürchtete Baudelaire den belgischen Bankier? Manche sagen, Baudelaire habe Madame Sabatier ausgenutzt: Erst als Muse, dann als Prozeßhelferin, und schließlich, solcher Dienste unbedürftig geworden, habe er ihr, nicht ohne vorher noch etwas Honig abzusaugen, mit einer kleinen Komödie den kalten Abschied gegeben. Andere sagen: Die Beziehung zu Madame Sabatier war ein Versuch Baudelaires, sich aus dem Labyrinth der Mißerfolge, Enttäuschungen und Schmerzen zu befreien; aber diesen Prozeß gegen das Unglück konnte er nicht gewinnen, und zwar deshalb, weil er ihn in Wahrheit nicht gewinnen wollte. Baudelaire suchte Schmerz und Qual – als Quelle und Gegenstand seiner Dichtkunst. Dazu paßte seine Verehrung für den Philosophen Joseph Le Maistre. Dessen Katholizismus war so finster, daß man ihn mit Fug und Recht einen Vorläufer des Marquis de Sade nennen darf. Baudelaire fühlte tiefkatholisch; die Welt war für ihn das Schlachtfeld des ewigen Kriegs zwischen Gott und Teufel, und der Zweck, wenn nicht das Glück des Menschen war es, darein verstrickt zu sein, Himmel und Hölle in sich zu wissen und ausweglos zu leiden unter der Sehnsucht nach Glück. Wenige Jahre vor seinem Tode schrieb Baudelaire ein Sonett mit dem Titel »Der Untergang der romantischen Sonne«:
M 2:
Wie schön die Sonne ist, wenn sie ganz frisch sich hebt und wie in einem Bersten ihren Morgengruß uns zuwirft! Glückselig, wer in Liebe sie grüßen kann, wenn sie glorreicher als ein Traum im Glanze sinkt!
Ich erinnere mich! … Blume, Quelle, Furche, alles sah ich unter ihrem Auge sich regen wie ein schlagendes Herz … – Laßt uns zum Rand der Erde laufen, es ist spät, rasch, laßt uns eilen, um wenigstens noch einen schrägen Strahl zu erhaschen!
Doch umsonst verfolge ich den Gott, der uns entweicht; unwiderstehlich breitet die Nacht ihre Herrschaft aus, schwarz, feucht, unheimlich und schauervoll;
Ein Grabeshauch schwimmt in den Finsternissen, und unversehens tritt mein scheuer Fuß am Rand des Sumpfes auf Kröten und auf kalte Schnecken.
M 1:
Achtes Kapitel: Rechtsmittel
E:
Am 25. September 1946 trat in Frankreich ein Gesetz in Kraft, aufgrund dessen Urteile der Justiz über literarische Werke nachträglich angefochten werden konnten. Die Societé des gens de lettre de France beantragte alsbald ein Revisionsverfahren gegen das Urteil in Sachen Fleurs du mal vom 20. August 1857. Der neue Prozeß dauerte bis zum 31. Mai 1949. An diesem Tage, fast 72 Jahre, nachdem er auf dem Friedhof Montparnasse zu Grabe getragen worden war, wurde Charles Baudelaire in vollem Umfang freigesprochen. Triumph des Rechts? Sieg des Fortschritts? Oder doch wieder nur eine Posse?
Und Madame Sabatier? Gegen den Bruch von Liebesschwüren, auch wenn sie noch so schön gereimt sind, gibt es keine Revision; selbst im Olymp ist solcher Meineid straflos. Aber etwas ist von ihr geblieben: Ihr Liebreiz schimmert wie eine Lilie zwischen den finsteren Blumen des Bösen, in ihren Briefen an Charles Baudelaire ist ihre Würde aufbewahrt, und ihre Büste glänzt im Louvre wie ein antiker Marmor, von der reinsten und köstlichsten Form.
Finis
Nachbemerkung:
Gedichte kann man nicht übersetzen, sagt man. Besonders gerne sagen es Übersetzer, und zwar vorzugsweise im Vorwort des Übersetzers zu einem Buch mit Gedicht-Übersetzungen – oh holde Paradoxie! Eine Übersetzung ist eine Abbildung. Die getreulichste Abbildung ist die Photographie. Aber Photographien (seien es auch digitale) können nur das abbilden, dessen reale Existenz auch der härteste Nominalist nicht bestreiten kann. Nun sind Gedichte aber nicht nur physikalische Gebilde, sie sind auch Gedanken und Gefühle, und Gedanken und Gefühle kann man nicht photographieren, entweder, weil sie gar nicht real existieren oder weil sie zwar exisitieren, aber eben nicht in der physikalisch messbaren Außenwelt. Probleme über Probleme! In den Fleurs du Mai versucht Baudelaire, alles darzustellen, alles bloßzulegen. Er wird die menschliche Natur bis in ihre heimlichsten Schlupfwinkel durchforschen, sagte der Staatsanwalt im Beleidigungsprozeß gegen Baudelaire, und er hatte recht. Er hätte hinzufügen konnen, daß Baudelaire auch und gerade vor dem Häßlichen, Ekelhaften und Bösen, vor Laster, Zerrissenheit, Gier und Sünde nicht haltmacht. Das ist aber nur eine Seite; eine andere ist die Formensprache der Gedichte, die der Idee nach konservativ und im klassischen Sinne schön ist. Reim und Rhythmus, Alliteration und Melodie – das ist bei Baudelaire alles alte Schule, ausgefeilt und elegant, es sind eben Blumen des Bösen. Die deutsche Sprache taugt, unter anderem wegen ihrer Betonung der Stammsilben, nicht gut zur Abbildung der Flüchtigkeit und Leichtigkeit, ja der hauchzarten Ironie des Spiels von Reim und Melodie, das Baudelaire zu hoher Meisterschaft gebracht hat. Deshalb wirken diejenigen Übersetzungen, die Reim und Rhythmus, Versmaß und Silbenzahl des Originals getreulich wiederholen, oft sehr viel brachialer und düsterer als die französischen Texte. Es sind eher Strünke und Stauden als Blumen des Bösen. Was nicht das Schlimmste wäre, wenn nicht die Befolgung der Form zugleich auch eine Vergewaltigung der Bild- und Gedankensubstanz erzwänge: So muß, in Stefan Georges Übersetzung des Gedichts »Le Coucher Du Soleil Romantique« (»Der Untergang der romantischen Sonne«), aus einem eher zarten cœur qui palpite, also einem zuckenden, oder vielleicht leise klopfenden Herzen ein teutonisches Kampforgan werden, nämlich ein Herz, das hämmert, und zwar deshalb, weil es, bei George, in der nächsten Zeile dämmert, was bei Baudelaire zwar angedeutet, aber gerade eben nicht ausgesprochen ist. Ich ziehe deshalb diejenigen Übersetzungen vor, die sich auf den Versuch beschränken, die Gedankenwelt und die Bilderfolge der Gedichte wiederzugeben. Und genieße dazu die französischen Texte als optische und akustische Kunst-Erlebnisse.
Im Text zitierte Gedichte Baudelaires:
A celle qui est trop gaie
Ta tête, ton geste, ton air
Sont beaux comme un beau paysage;
Le rire joue en ton visage
Comme un vent frais dans un ciel clair.
Le passant chagrin que tu frôles
Est ébloui par la santé
Qui jaillit comme une clarté
De tes bras et de tes épaules.
Les retentissantes couleurs
Dont tu parsèmes tes toilettes
Jettent dans l’esprit des poètes
L’image d’un ballet de fleurs.
Ces robes folles sont l’emblème
De ton esprit bariolé;
Folle dont je suis affolé,
Je te hais autant que je t’aime!
Quelquefois dans un beau jardin
Où je traînais mon atonie,
J’ai senti, comme une ironie,
Le soleil déchirer mon sein;
Et le printemps et la verdure
Ont tant humilié mon cœur,
Que j’ai puni sur une fleur
L’insolence de la Nature.
Ainsi je voudrais, une nuit,
Quand l’heure des voluptés sonne,
Vers les trésors de ta personne,
Comme un lâche, ramper sans bruit,
Pour châtier ta chair joyeuse,
Pour meurtrir ton sein pardonné,
Et faire à ton flanc étonné
Une blessure large et creuse,
Et, vertigineuse douceur!
A travers ces lèvres nouvelles,
Plus éclatantes et plus belles,
T’infuser mon venin, ma sœur!
Femmes damnées (Delphine et Hippolyte)
A la pâle clarté des lampes languissantes,
Sur de profonds coussins tout imprégnés d’odeur
Hippolyte rêvait aux caresses puissantes
Qui levaient le rideau de sa jeune candeur.
Elle cherchait, d’un œil troublé par la tempête,
De sa naïveté le ciel déjà lointain,
Ainsi qu’un voyageur qui retourne la tête
Vers les horizons bleus dépassés le matin.
De ses yeux amortis les paresseuses larmes,
L’air brisé, la stupeur, la morne volupté,
Ses bras vaincus, jetés comme de vaines armes,
Tout servait, tout parait sa fragile beauté.
…
Le coucher du soleil romantique
Que le Soleil est beau quand tout frais il se lève,
Come une explosion nous lançant son bonjour!
– Bienheureux celui-là qui peut avec amour
Saluer son coucher plus glorieux qu’un rêve!
Je me souviens! … J’ai vu tout, fleur, source, sillon,
Se pâmer sous son œil comme un cœur qui palpite …
– Courons vers l’horizon, il est tard, courons vite,
Pour attraper au moins un oblique rayon!
Mais je poursuis en vain le Dieu qui se retire;
L’irrésistible Nuit établit son empire,
Noire, humide, funeste et pleine de frissons;
Une odeur de tombeau dans les ténèbres nage,
Et mon pied peureux froisse, au bord du marécage,
Des crapauds imprévus et de froids limaçons.
Tout entière
Le Démon, dans ma chambre haute,
Ce matin est venu me voir,
Et, tâchant à me prendre en faute,
Me dit: »Je voudrais bien savoir,
Parmi toutes les belles choses
Dont est fait son enchantement,
Parmi les objets noirs ou roses
Qui composent son corps charmant,
Quel est le plus doux.« – O mon âme!
Tu répondis à l’Abhorré:
»Puisqu’en Elle tout est dictame,
Rien ne peut être préféré.
Lorsque tout me ravit, j’ignore
Si quelque chose nme séduit.
Elle éblouit comme l’Aurore
Et console comme la Nuit;
Et l’harmonie est trop exquise,
Qui gouverne tout son beau corps,
Pour qui l’impuissante analyse
En note les nombreux accords.
O métamorphose mystique
De tous mes sens fondus en un!
Son haleine fait la musique,
Comme sa voix fait le parfum!«
Que diras-tu ce soir, pauvre âme solitaire
Que diras-tu ce soir, pauvre âme solitaire,
Que diras-tu, mon cœur, cœur autrefois flétri,
A la très belle, à la très bonne, à la très chère,
Dont le regard divin t’a soudain refleuri?
– Nous mettrons notre orgueil à chanter ses louanges:
Rien ne vaut la douceur de son autorité;
Sa chair spirituelle a le parfum des Anges,
Et son œil nous revêt d’un habit de clarté.
Que ce soit dans la nuit et dans la solitude,
Que ce soit dans la rue et dans la multitude,
Son fantôme dans l’air danse comme un flambeau.
Parfois il parle et dit: »Je suis belle, et j’ordonne
Que pour l’amour de moi vous n’aimiez que le Beau;
Je suis l’Ange gardien, la Muse et la Madone.«
Charles Baudelaire: Sämtliche Werke/Briefe in 8 Bänden. München/Wien 1977, Bd. 4, S. 24–26, 14–16, 6; Bd. 3, S. 134, 136.