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Kleine Reden und Miszellen

»Recht ist keine Mathematik«

Interview in der SZ vom 13. Oktober 2018

Manche Entscheidungen von Gerichten sind schwer nachvollziehbar. Christoph Schmitz-Scholemann, ehemaliger Richter am Bundesarbeitsgericht, kritisiert überkomplexe Regelungen und unverständliche Fachsprache.

Interview von Ina Reinsch

Christoph Schmitz-Scholemann ist ehemaliger Richter am Bundesarbeitsgericht in Erfurt und Verfasser von zahlreichen juristischen und literarisch-juristischen Abhandlungen. Er erklärt, warum Urteile manchmal so schwer zu verstehen sind und weshalb die Deutschen dennoch eines der besten Rechtssysteme der Welt haben.

SZ: Warum sind manche Entscheidungen für den Bürger auf den ersten Blick so schwer nachvollziehbar?

Christoph Schmitz-Scholemann: Meist kennt man die Entscheidungen aus der Presse. Das heißt, man kennt den Sachverhalt fast nie vollständig. Oftmals ist auch die Rechtslage so kompliziert, dass man sie nicht mit wenigen Worten erklären kann. Hier sehe ich auch die Medien in der Pflicht, ihre Arbeit nicht nur auf Schnelligkeit und Pointierung auszulegen. Zum Beispiel im Fall des muslimischen Warenhaus-Mitarbeiters, der sich weigerte, Bierkisten zu tragen. Die Vorinstanzen haben festgestellt, dass ein ernster Gewissenskonflikt zugrunde lag. Das war für die Allgemeinheit vielleicht schwer nachvollziehbar. Religions- und Gewissensfreiheit sind aber wichtig in einer pluralen Gesellschaft.

Ein Urteil ergeht »im Namen des Volkes«. Müssen auch die Richter darauf achten, verständlicher zu erklären?

Ja. Erstinstanzliche Gerichte sind meist näher am Volk und daher oft verständlicher. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts sind dagegen teilweise Selbstgespräche der Justiz. Sie sind in einer Sprache abgefasst, die der Bürger nicht verstehen kann. Es gibt ein, wie ich finde, fatales Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das sagt, der Bürger habe keinen Anspruch darauf, Gesetze ohne rechtskundige Hilfe zu verstehen. Da hat sich etwas verselbständigt in der Justiz. Es gibt aber auch sehr klar und schön geschriebene Urteile.

Wie kommt es, dass an einem Arbeitsgericht in Deutschland eine Klage anders bewertet wird als an einem anderen?

Oftmals stellt man bei näherem Hinsehen fest, dass die vermeintlich gleichen Sachverhalte doch nicht so ähnlich waren. Aber trotzdem gibt es unterschiedliche Entscheidungen bei im Wesentlichen gleichem Sachverhalt. Ich glaube aber, es lässt sich nicht ändern.

Warum?

Die Grenze zwischen Recht und Unrecht kann man nicht mit dem Lineal ziehen. Recht ist keine Mathematik. Ein Urteil ist das Ergebnis geordneter, praktischer Vernunft. Da gibt es eben auch verschiedene Auffassungen zwischen verschiedenen Richtern. Dieser Widerspruch ist vermutlich unauflösbar, solange das Recht von Menschen gesprochen wird und nicht von Gott. Der Gerichtsprozess ist zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte nicht ideal, aber immer noch besser als die Privatfehde, sei es durch Twitter-Abstimmungen oder Schlägerei. Es gibt jedenfalls weniger Verletzte.

Ist unser Rechtssystem gut, so wie es ist?

Wenn Sie in die deutsche Geschichte schauen oder in andere Länder heute, dann ist unser System sicher eines der besten, das man sich denken kann. Wir haben keine Korruption, es gibt kaum politischen Druck auf die Gerichte, die Arbeitsgerichte zum Beispiel arbeiten sehr schnell und sind dank der Mitarbeit ehrenamtlicher Richter im Allgemeinen bestens geerdet. Trotzdem gibt es Systemfehler, an denen dringend gearbeitet werden muss.

Welche wären das zum Beispiel?

Brüche und offene Widersprüche zwischen nationalem und europäischem Recht, die Neigung des Gesetzgebers zu überkomplexen Regelungen, der Hang mancher Richter, ihre Gedanken mit dem Weihrauch einer kunstreichen Fachsprache zu umnebeln: Alles das ist dazu geeignet, dem nicht juristisch vorgebildeten Bürger das Vertrauen in den Gesetzgeber und die Justiz zu erschweren und damit letztlich das Demokratie-Prinzip zu gefährden. Schließlich soll doch alle Gewalt vom Volk ausgehen.

© SZ vom 13.10.2018

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