»Wenn Ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen!« Recht, Gefühl und Rechtsgefühl (15.02.22)
zus. mit Martin Brune, Rechtsanwalt (Berlin)
»Welcher andere Zweig der Literatur … hat einen solchen Wust von geist- und geschmacklosen Büchern aufzuweisen wie der juristische?«
Zweiter Teil
4. Ein amerikanisches Experiment
Die drei US-amerikanischen Juristen Andrew J. Wistrich, Jeffrey J. Rachlinski und Chris Guthrie veröffentlichten im Jahre 2015 in der »Texas Law Review« (Bd. 93, S. 855–923) die Ergebnisse einer Untersuchung, in der sie dem Einfluss von Emotionen auf die rechtliche Beurteilung eines Falls nachgegangen waren. Sie legten über 500 Richtern unterschiedlicher Gerichte Rechtsfragen vor, deren Beantwortung nicht von Wertungsproblemen abhängig war. Es ging nicht um das, was wir gern als Gummiparagraphen bezeichnen, also konturenarme Rechtsbegriffe wie z. B. ›Sittenwidrigkeit‹ oder ›Treu und Glauben‹. Es ging ganz konkret darum, ob eine genau beschriebene Form der Manipulation eines Dokuments als Urkundenfälschung anzusehen sei oder nicht. Solche an sich wertneutralen und emotional eher unverdächtigen Rechtsfragen kleideten sie in jeweils zwei fiktive Fälle ein, die sich nur darin unterschieden, dass der eine Täter als eher als sympathisch (arm, alt, Vater) und der andere als unsympathisch (jung, verwahrlost, brutal) geschildert wurde. Das Ergebnis war, dass – trotz exakt identischer Tatbegehung – der als sympathisch geschilderte Täter deutlich seltener als der unsympathische wegen Urkundenfälschung verurteilt wurde und etwa ein Drittel der Richter, die den sympathischen Täter verurteilten, nicht einmal bemerkten, dass sie sogar das gesetzlich unerbittlich vorgeschriebene Mindeststrafmaß unterschritten damit den klaren Gesetzesbefehl missachteten. Sie ließen sich durch ihr Gefühl zu ungesetzlicher Milde hinreißen.
5. How judges think: Often in error, never in doubt
Richard Allen Posner ist ein 1939 geborener US-amerikanischer Bundesrichter, Hochschullehrer und Autor. In seinem 2008 erschienenen Buch »How judges think« beschreibt er seine Erfahrungen als Richter. Er sagt, dass die amerikanischen Richter – und zwar gerade die mit großen Entscheidungsspielräumen ausgestatteten in den höchsten Instanzen – sich der Entscheidungsfindung im Wesentlichen nicht anders nähern als es juristische Laien tun. Das heißt: Sie entwickeln recht schnell ein ›Gefühl‹ für den ihnen vorgelegten Fall und erahnen, wohin der Hase laufen sollte. Erst dann suchen sie nach Gründen. Allerdings, so meint er, sei das den Richtern oft nicht bewusst. In einem Interview sagte Posner:
»Ich glaube, da ist ein gewisses Maß an Selbsttäuschung vorhanden. Ein Richter fühlt sich besser, wenn er denken kann, seine Entscheidungen seien erzwungen von ›Gesetz und Recht‹ – also von etwas, das mit eigenen Vorlieben nichts zu tun hat und keinesfalls zusammenhängt mit persönlichen Wertvorstellungen, Intuitionen und Gefühlen …«
Letztere, nämlich moralische Vorstellungen, Religion, Erziehung, Ausbildung, Lebenserfahrung, Berufserfahrung, Charaktereigenschaften, Rasse, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, soziale Bindungen, hierarchische Stellung, Gruppenloyalitäten und eben auch Gefühle spielten aber, so Posner, sehr wohl eine Rolle. Weil sie den jeweiligen Denk- und Gefühlsraum bestimmen, in dem sich der Richter bewegt. Dass das so ist, kritisiert Posner ausdrücklich nicht. Er hält es vielmehr für unvermeidbar, weil es den Richter ausweist als einen ganz normalen Menschen. Außerdem glaubt Posner, dass das Rechtsgefühl (»intuition«) des Richters eine eigene Rationalität hat, weil es in gewissermaßen kondensierter Form Wissen und Erfahrung repräsentiert und als ein notwendiges Element der Denk-Ökonomie häufig dem »step-by-step«-Denken vorzuziehen sei: Nicht Intuition ist irrational, sondern der Glaube, ohne sie auszukommen. Dass die niedergeschriebenen Entscheidungsgründe obergerichtlicher Urteile den Eindruck erwecken, als sei der ›Tenor‹ (also das Ergebnis) eine durch objektiv nachprüfbare logische Operationen aus einem abzählbar endlichen Bestand von eindeutigen Sollens-Sätzen gewonnene Schlussfolgerung, erweist sich in Posners Augen als eine Illusion: Die geschriebenen Entscheidungsgründe sind nicht die Ursache, sondern die nachträgliche Rechtfertigung des intuitiv gewonnenen Ergebnisses.
Ob man erwarten kann, dass oberinstanzliche Richter sich diesen Sachverhalt eingestehen? Nein, sagt Posner, das glaube er nicht. Sie verführen eher nach dem Motto »often in error, never in doubt«: Oft im Irrtum, niemals im Zweifel. Die meisten Richter, sagt Posner, hätten sich selbst und die Macht ihrer Emotionen allenfalls flüchtig kennengelernt. Posner schließt mit den Worten: »That is unlikely to change.«
6. »Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft«
Diesen Titel trägt eine bis heute berühmte Rede, die im Jahre 1847 in der »Juristischen Gesellschaft« zu Berlin gehalten wurde. Redner war der damals als preußischer Staatsanwalt amtierende Jurist, Philosoph und Schriftsteller Julius von Kirchmann (1802–1884). Den Rechtswissenschaftlern seiner Zeit warf Kirchmann vor, einem vollständig nutzlosen, ja schädlichen Gewerbe nachzugehen. Er fragt: »Welcher andere Zweig der Literatur … hat einen solchen Wust von geist- und geschmacklosen Büchern aufzuweisen wie der juristische?« Recht sei mit wissenschaftlichen Methoden nicht erfassbar. Denn das Recht habe seinen Sitz »nicht bloß im Wissen, sondern auch im Fühlen« des Volks und sei der Wissenschaft »ewig voraus«. Die Rechtsprechung solle daher in die Hände von unverbildeten Menschen aus dem Volk gelegt werden. Gesetze sollten nur allgemeine Anhaltspunkte enthalten, anhand derer die Richter die für den jeweiligen Einzelfall gerechte Lösung finden würden. Das aus einer jahrhundertelangen schematischen Quisquilienwirtschaft entstandene Juristenrecht sei nachgerade ein Schaden für die Gerechtigkeit. Die gelehrten Juristen seien darauf aus, »ein Feld anzubauen, wo die große Masse nicht nachfolgen kann, … wo man sicher ist, dass auch die verkehrtesten Resultate von dem gesunden Menschenverstande nicht widerlegt werden können. Die Juristen sind durch das positive Gesetz zu Würmern geworden, die nur von dem faulen Holz leben, … in dem sie nisten und weben …«. Auf diese Weise werde das Recht verdorben und »das Volk verliert die Kenntnis seines Rechts und seine Anhänglichkeit an dasselbe; es wird der ausschließliche Besitz eines besonderen Standes …«.
Dieser Befund deckt sich in etwa mit dem Ausspruch des englischen Philosophen Jeremy Bentham (1748–1832): »Recht ist die Kunst, das mit Methode zu bestreiten, was für jedermann auf der Hand liegt.«
7. Vernunft und Leidenschaft
In einem Vortrag aus den 90er-Jahren ging William J. Brennan (1906–1997), der von 1956 bis 1990 Richter am Supreme Court der USA war, dem Verhältnis von Leidenschaft, Vernunft und dem Fortschritt des Rechts nach (»Reason, Passion and the Progress of Law«).
Er beginnt in seinem Vortrag mit einer Hommage an Benjamin N. Cardozo (1870–1938), einen der einflussreichsten Juristen und Richter des Supreme Courts des frühen 20. Jahrhunderts. Dieser lebte laut eigener Aussage in einer Zeit, in der die Juristen glaubten, das Recht sehe eine exakte Regel für jeden Fall vor, die durch absolut logische Deduktion zu finden sei, so dass ein Richter wohl eher die Bezeichnung »Rechtsapotheker« verdiene, da er dem jeweiligen Rechtsproblem lediglich die verschriebene korrekte Norm verabreiche. Cardozo jedoch glaubte, dass der Charakter des Urteilens weder die einfache Anwendung purer Vernunft auf rechtliche Probleme, noch die Anwendung persönlichen Willens oder der Leidenschaft des Richters sein könne, sondern durch ein komplexes Zusammenspiel von rationalen, emotionalen, bewussten und unterbewussten Kräften gekennzeichnet sei. Emotionalität sah Cardozo nicht als Makel, sondern als Zeichen der Lebhaftigkeit. Cardozo bestand darauf, Erfahrung, Emotion und Leidenschaft neben der rationalen, gewissermaßen geometrischen Problemvermessung als entscheidungsrelevante Faktoren anzuerkennen. Jedenfalls sei der Richter nicht, wie er oft von sich selbst glaube, ein Orakel der puren Vernunft.
Fortsetzung folgt