»Wenn Ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen!« Recht, Gefühl und Rechtsgefühl (01.03.22)
zus. mit Martin Brune, Rechtsanwalt (Berlin)
»Welcher andere Zweig der Literatur … hat einen solchen Wust von geist- und geschmacklosen Büchern aufzuweisen wie der juristische?«
Dritter Teil – Schluss
8. How judges feel – Ein Blick auf die Gefühlswelt des Richters
Man könnte meinen, Jura sei eine langweilige Sache, man würde ewig in Gesetzen und Kommentaren kramen und das Ganze sei eine lebensfremde und zutiefst schläfrige Veranstaltung. Wer in der Zeitung von Fällen liest, in denen ein Richter bei der Sitzung einschläft, kann sich bestätigt fühlen.
Es ist aber nicht die Wahrheit. Aus den USA, wo man Gerichtssitzungen filmen darf, findet man im Internet jede Menge Videos mit ausrastenden Richterinnen und Richtern. Die Ausraster geschehen meistens dann, wenn Vergewaltiger grinsend Kaugummi kauen, Zeugen dreist lügen, Anwälte das Gericht unverschämt angehen. Von einem eigentlich eher sanftmütigen Kollegen weiß ich, dass er sich einmal dazu hinreißen ließ, einem Prozessbeteiligten in der Sitzung entgegenzuschleudern: Wenn ich Sie sehe, geht mir das Messer in der Tasche auf! Solche Ausrufe tun der Richterseele kurzfristig gut, sind aber für das Ansehen schädlich. Aus eigener Erfahrung weiß ich: Es wird nirgendwo so viel und so systematisch gelogen wie vor den Gerichten erster Instanz. Das wissen auch die Anwälte. Einmal schrieb mir ein Anwalt vor einer Zeugenvernehmung, eine der Zeuginnen könne er bedauerlicherweise nicht mitbringen. Sie leide sehr oft unter »Schwindel-Anfällen«.
Ich habe es immer als irgendwie beschämend empfunden, so offenkundig von erwachsenen Menschen belogen zu werden. Auf manche Richter hat das übrigens die bedauerliche Wirkung, dass sie gar nichts mehr glauben und jedweden Bekundungen und vor allem hohen Worten wie Gerechtigkeit und Mitgefühl mit kaltem Sarkasmus (der déformation professionelle Nr. 1 des Juristen) begegnen.
Und es gibt in der Justiz auch ganz kleine, mal niederträchtige, mal liebenswerte Gefühle. Zum Beispiel, dass sich ein Richter in eine Anwältin verliebt. Dass eine Richterin eine Kollegin hasst. Aus dem Bundesverfassungsgericht habe ich von türeknallenden Auftritten zwischen Senatsmitgliedern gehört. Oder von In-den-Senkel-stellendem Abkanzeln gegenüber Kollegen aus unteren Instanzen. »Was bilden Sie sich ein? Was glauben Sie, wer Sie sind? Sie werden sich noch wundern, was wir alles können!« Eine Rhetorik der Herrenreiter gegenüber unfolgsamen Pferdeknechten.
Ich erinnere mich – Asche auf mein Haupt – dass ich einen Kollegen auf dem Höhepunkt eines Streits »Arschloch« genannt habe. Als Referendar war ich einem Staatsanwalt zugeordnet, der mir, als er sich in einem Strafverfahren gegen einen widerspenstigen Schwarzen zum Plädoyer erhob, bebend vor Wut, zuflüsterte: »Passen Sie gut auf! Jetzt mach ich den Bimbo fertig!«
Und ja, auch das findet man bei Richtern: Es gibt unnötige Angst, an einer als richtig erkannten Rechtsauffassung gegenüber der Vorsitzenden der Kammer oder des Senats festzuhalten. Es gibt Hoffnungen, mit populären Sprüchen in der Sitzung in die Presse zu kommen. Es gibt religiöse und politische Anhänglichkeiten oder Aversionen, die man sich selbst und anderen gegenüber als Grundsätze objektiven Rechts verkauft. Es gibt Faulheit, Entscheidungsschwäche, Trunksucht, Kleinlichkeit. Wer nach Beispielen sucht, findet sie in den Entscheidungen der Richterdienstgerichte zu Hauf. Und es gibt gerade in Kollegialgerichten manchmal auch kalten Schweiß und heiße Tränen. Es gibt bei Richtern alles, was es auch bei Busfahrerinnen, Politikerinnen, Schriftstellern und Krankenpflegern gibt. Wie leicht die Urteilskraft durch schlichten Hunger am Ende einer überlangen Sitzung getrübt werden kann, zeigt eine sehr ernüchternde Untersuchung, die ich in einem Buch des Nobelpreisträgers Daniel Kahnemann fand: Danach hängt die Härte einer verhängten Maßnahme bei gleicher Sachlage weniger vom Gesetz als vom Glukoseanteil im Blut der Entscheider ab. Man hüte sich also vor unterzuckerten Richtern!
Ja, es gibt auch die schönen großen Gefühle: Flammenden Idealismus, Mut, Ausdauer. Richter, die mit Herz und Verstand gegen eine als ungerecht empfundene Rechtspraxis ankämpfen. Der Sozialrichter Jan-Robert von Renesse störte sich daran, dass die Sozialgerichte Renten-Ansprüche von Menschen, die im Dritten Reich in Ghettos arbeiten mussten, reihenweise abwiesen und zwar mit der Begründung, die Kläger hätten keine Beweise für ihre (sechzig Jahre zurückliegende) Zwangsarbeit vorgelegt. Eigene Nachforschungen anzustellen, z.B. die meist in Israel lebenden hochbetagten Kläger persönlich zu hören, lehnten die Richter ab. Sie begnügten sich mit umfangreichen Fragebögen, die die betagten Kläger vollständig ausfüllen sollten, was ihnen in der Regel nicht gelang. Jan-Robert von Renesse sah darin eine schreiende Ungerechtigkeit. Er änderte die allzu bequeme Praxis, machte Ortstermine in Israel, gab Gutachten in Auftrag und es gelang ihm, vielen Ghetto-Arbeitern Renten zu verschaffen. In der Justiz machte sich von Renesse damit nicht beliebt. Im Gegenteil: 2010 entzog das Landessozialgericht Renesse die Zuständigkeit für Ghetto-Renten. Unter anderem, weil er im Krankenstand von zu Hause aus weiter gearbeitet hatte. Er wehrte sich mit einer Petition an den Bundestag, allerdings ohne Erfolg. Stattdessen reagierte der nordrheinwestfälische Justizminister mit einem Disziplinarverfahren – gegen Renesse. Hätte die ungarische Regierung das mit einem ungarischen Richter gemacht – Forderungen nach einem Rechtsstaatlichkeitsverfahren der EU wären nicht ausgeblieben.
9. Affektlogik
Ich glaube, die verbreitete Doktrin von der Trennbarkeit emotionaler und logischer Argumentation ist für die Rechtskunde unrealistisch. Sie beruht auf dem Irrglauben, man könnte den Seelenhaushalt in zwei Departements mit striktem Grenzverlauf aufteilen. Hier das Herrschaftsgebiet des menschlichen Denkens, dort das des Fühlens. Und dazu das Ideal der reinen Logik als der Herrin, welche die Gefühle zügelt wie ein Kutscher die Pferde. Wenn wir unser aller Treiben im Alltag betrachten, unsere Entscheidungen über Käufe und Verkäufe, Mietvertragsschlüsse und Ferienreisen, Eheverträge und Erziehung und was auch immer – ist es die reine Logik, die uns leitet? Haben wir noch nie bemerkt, wie dumm uns Geiz machen kann und wie klug die Liebe? Und glaubt man im Ernst, dass ein Richter sich in einen Algorithmen-Automaten verwandelt, wenn er anfängt, seine Akten zu studieren? Sind wir uns immer sicher? Sicherheit, sagte Blaise Pascal, beruht immer auf Einbildung.
Oder ist es nicht vielmehr so, wie es der Schweizer Arzt und Psychiater Luc Ciompi beschreibt? Nach seinem Konzept der »Affektlogik« sind Fühlen und Denken immer gemeinsam am Werk: »Emotion und Kognition wirken in sämtlichen psychischen und sozialen Prozessen ständig in zirkulärer Weise zusammen: Bestimmte Kognitionen lösen bestimmte Emotionen aus, und bestimmte Emotionen beeinflussen alle Kognition …«.
Übrigens hat auch die deutsche Justiz ein Wort für die Fähigkeit, Richters, juristische Korrektheit mit einem gewissen Feingefühl für Maß und die Besonderheiten jedes Falles zu verbinden. Es kommt, soweit ich weiß, in keinem Gesetz vor und doch fühlt sich jede Richterin und jeder Richter ein wenig geadelt, wenn man es ihm zuspricht: »Judiz« heißt das Wort.
10. Was nun?
Also nein, es geht nicht darum, die professionelle Justiz durch Volksrichterinnen zu ersetzen. Ich glaube auch nicht, dass die Jurisprudenz als Wissenschaft wertlos ist. Die technischen Veränderungen, die politischen Machtverschiebungen, die Internationalisierung der Rechtskonflikte erfordern Analysen und Lösungsvorschläge, zu denen die Nachdenklichkeit, die Gründlichkeit und die Phantasie notwendig ist, zu der weder Gerichte noch Anwaltschaft den Atem haben. Die Rechtswissenschaft kann da viel Gutes bewirken. Natürlich muss sich der Richter an das Gesetz halten. Und er muss es so anwenden, wie es gemeint ist und nicht wie er fühlt, dass es besser wäre. Ich glaube auch nicht, dass ein Urteil schon deswegen richtig ist, weil der Richter weinen musste oder sonst ein feines Gefühl beim Sprechen der Urteilsformel hatte. Es ist aber auch nicht deswegen falsch. Ich glaube auch, dass ein Richter versuchen sollte, sein Urteil logisch zu begründen. Aber die Logik ist keine Garantie.
Ein Beispiel: Für die Entziehung der ärztlichen Approbation ist nach geltendem Recht vom Gericht eine Prognose darüber anzustellen, ob der Arzt/die Ärztin die für die Berufsausübung nötige Zuverlässigkeit aufweist. Im SPIEGEL vom 5.11.2016 war zu einem solchen Fall eine kleine Meldung aus der Tagespresse zitiert. Danach war einer Ärztin Berufsverbot erteilt worden, weil sie ihren Mann mit einer Überdosis Morphium ins Jenseits befördert hatte. Die Überschrift des Zeitungsartikels lautete: »Ärztin bringt Ehemann um – Berufsverbot aufgehoben – Gericht hält Wiederholung der Tat für unwahrscheinlich.« Ich weiß nicht, ob die Meldung so stimmt. Wenn sie aber stimmt, dann enthielt sie keinen Denkfehler: Denn auch die teuflischste Ärztin kann ihren Mann nicht zwei Mal umbringen. Jedenfalls nicht, ohne vorher ein zweites Mal zu heiraten. Trotzdem wäre eine solche Entscheidung deutlich kontraintuitiv.
Jeder Richter sollte sich an Fälle erinnern, in denen er einen Fall durchdacht, ihn mit den Gesetzen in der Hand nach den vorgeschriebenen Methoden be- und durchleuchtet hat, die Schlussfolgerungen widerspruchsfrei erkannt hat – und vom Ergebnis entsetzt war. Oder er war mit dem Ergebnis einverstanden, musste aber feststellen, dass seine Kollegen es verheerend fanden. Und dachte: Das kann so nicht sein. Ich muss einen anderen Weg suchen. Noch ein Beispiel:
In München hatte ein Vermieter Streit mit seiner Mieterin. Auf dem Höhepunkt des Streits hatte der Mitbewohner der Mieterin an den Vermieter eine E-Mail mit folgendem Wortlaut geschrieben:
»… ihr seid sehr feindselige und sehr gefährliche terroristen nazi ähnliche braune mist haufen auf eigener art!!! […] und ich schwöre sehr hoch und sehr heilig, ich werde euch und jeder dreckiger perverse schurke der mit euch arbeitet/unterschtützt im knast zu schicken oder mindestens kurz davor, und ihr werdet meine stiefel sohle ….lecken,… aber gnade werde ich nicht haben.«
Daraufhin kündigte der Vermieter der Mieterin fristlos. Er berief sich auf § 543 BGB. Danach kann der Vermieter bei schweren Beleidigungen durch den Mieter oder einen Mitbewohner fristlos kündigen. Das Landgericht München gab dem Vermieter Recht. Das entsprach auf den ersten Blick dem Gesetz. Der BGH hob das Urteil des Landgerichts auf. Warum? Die Mieterin lebte seit mehr als einem halben Jahrhundert in der Wohnung. Sie war 95 Jahre alt, schwerkrank und bettlägerig. Der Mitbewohner war ihr offenbar mäßig gebildeter Pfleger, der sich auf seine natürlich indiskutable Art für die alte Dame hatte stark machen wollen. Bei näherem Zusehen war auch diese Entscheidung mit dem Gesetz in Einklang zu bringen.
Es gibt manchmal zwei Wahrheiten. Auch daran wird sich jeder Richter erinnern können. Dass er – wiederum bei Anwendung des Gesetzes, der Logik und der richtigen Methoden – dazu kam, dass er in seinem Urteil innerlich gespalten war. Man hilft sich dann, indem man einen möglichst ausgewogenen Vergleichsvorschlag unterbreitet. Oftmals funktioniert das auch. Aber wenn nicht? Einer der Gründe, aus dem es Richter geben muss, besteht gerade darin, solche Situationen aufzulösen. Es muss ein Urteil geben, auch dann, wenn es kein richtiges geben kann. Es ist wie im Fußballspiel: Elfmeter oder nicht, die Frage kann nicht offenbleiben. Also entscheidet man gelegentlich, ohne bis ins Letzte begründen und begreifen zu können, warum. Aus einem Gefühl heraus. Das ist manchmal unvermeidlich.
Ob wir das wahrhaben wollen oder nicht: Bei jeder Wahrheit muss man am Ende hinzufügen, dass man sich auch an die Wahrheit des Gegenteils erinnert. Sagt der schon mehrfach zitierte Blaise Pascal. Was man als Richter daraus lernen kann? Ich denke, aufmerksame Selbstbeobachtung und Bescheidenheit. Fingerspitzengefühl. Gerechtigkeitssinn. Den Rest kennt man ja aus dem Studium.