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»Wenn Ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen!« Recht, Gefühl und Rechtsgefühl (01.02.22)

zus. mit Martin Brune, Rechtsanwalt (Berlin)

»Leidenschaft und Vorurteil beherrschen die Welt – allerdings unter dem Namen ›Vernunft‹«

Erster Teil

Wenn man versuchen würde, durch eine Meinungsumfrage die typischen Eigenschaften von Juristen zu ermitteln, so käme vermutlich das Bild einer  Person mit deutlich gebändigter Emotionalität zustande, eines Menschen, der hinter dem ernsten und gebieterischen Wort von Gesetz und Recht zurücktritt und für den jedenfalls im Beruf Gefühle keine Rolle spielen. Diese Vorstellung von Juristen ist oftmals eng verbunden mit der weiteren Idee, dass das Recht etwas ist, das unabhängig von Richterinnen und Richtern existiert. Man glaubt von den Gerichten, dass sie das Recht finden, nicht erfinden. Und man denkt gerne, dass sie dies auf logische, objektive und nachprüfbare Art tun. Ungefähr so dürften auch viele Angehörige des Berufsstands der Juristen von sich selbst denken. Ich gehöre zu denen, die glauben, dass diese Sicht nicht richtig, oder zumindest in maßgeblichem Umfang unvollständig ist. Bei der Ausübung des juristischen Berufs sind Gefühle nicht nur unvermeidbar, sondern auch unentbehrlich. Einige Gedanken dazu will ich hier vorstellen. Sie sind aus Gesprächen hervorgegangen, die zum Teil schon einige Jahre zurückliegen. Damals hatte der oben genannte Rechtsanwalt, der zugleich einer meiner Söhne ist, als Student eine Arbeit zu schreiben, in der es um die Frage ging, inwieweit gerichtliche Entscheidungen von richterlichen Gefühlen beeinflusst werden. Ich war glücklich, die Ausarbeitung zu lesen, nachdem sie eine, soweit ich mich erinnere, sehr ordentliche Bewertung erfahren hatte.

1. Gefühl

Wenn man in Lexika nachschlägt, um herauszufinden, was genau eigentlich mit dem Wort »Gefühl« beschrieben werden soll, so stößt man im Wesentlichen auf andere Worte, die wir im Alltag als mehr oder weniger gleichbedeutend für »Gefühl« einsetzen, z. B. Intuition, Affekt, Emotion, Empfindung, Stimmung undsoweiter. Als Beispiele finden wir Liebe, Hass, Mitleid, Rührung u.v.a.m. Der Erkenntnisgewinn solcher Definitionen ist gering, was aber weder überraschend noch dramatisch ist. Denn irgendwie wissen wir alle, was ein Gefühl ist, und wers nicht weiß, der fühlt es.

Der Ursprungswohnsitz des Gefühls ist wo? Irgendwo in der Seele, sogar in der Volksseele kann er sein. Die Seele hat ihren Ort, wenn wir der Umgangssprache glauben, ohne Zweifel im Innern des Körpers. Im Herzen zum Beispiel, aber auch im Bauch oder in den »Fingerspitzen«; manche sagen sogar, sie hätten etwas in der Nase, oder gar »im Urin« gehabt – das Hirn scheint jedenfalls nie der Haupt-Ort der Gefühle zu sein. Die Einnahme gewisser Substanzen oder die Wahrnehmung gewisser Ereignisse kann Gefühle begünstigen, ist aber keine notwendige Bedingung für das Entstehen von Gefühlen. Gefühle kommen manchmal aus dem Nichts. Es kann sein, dass der Körper messbare Regungen zeigt oder Substanzen (Hormone z. B.) erzeugt, wenn der Mensch von Gefühlen heimgesucht wird. Aber wenn ich es richtig sehe, sind diese Regungen und Substanzen nicht identisch mit den Gefühlen. Und man weiß auch nicht genau, ob man erst glücklich sein muss, damit der Körper Glückshormone produziert, oder ob die zeitliche und kausale Reihe umgekehrt verläuft. Das Einzige, das man von Gefühlen sicher sagen kann, ist, dass sie existieren und dass sie unser Tun und Lassen auf oftmals unbegreifliche und manchmal schädliche, manchmal angenehme Weise begleiten und beeinflussen; und dass man sie nicht in Formeln erklären kann; und dass sie auf wiederum schwer erklärbare Weise von Mensch zu Mensch überspringen können, sie können »viral gehen«. Gefühle sind kaum berechenbar, was das Misstrauen gerade der bedeutendsten Denker auf die Gefühle gelenkt hat. Und so gehört es zum Erziehungsprogramm der meisten Kulturgesellschaften, zumindest einige der Gefühle zu bekämpfen oder doch »beherrschen« zu wollen, und zwar faktenbasiert und rational. Gefühle, so scheint es, sind eine wilde Bande von anarchischen, zur Gewalt neigenden Störenfrieden.

2. Recht

Das Recht kann solche Störenfriede nicht gebrauchen. Es unterscheidet sich sehr gern vom Gefühl. Zum Beispiel dadurch, dass es mit seiner Berechenbarkeit prahlt und damit, dass es nichts Individuelles ist, sondern nur als soziale Einrichtung Sinn ergibt. Und im Letzteren hat das Recht zweifellos recht. Ob Robinson Crusoe ein durchsetzbares Recht darauf hatte, seine beiden Hütten auf der Insel zu bauen, ob sie ihm oder einem anderen gehörten, nachdem er sie gebaut hatte und ob er jemand anderen störte, wenn er nachts laut in der Bibel las – alle diese Fragen erübrigen sich. Es gab keinen »anderen« Menschen (dachte er jedenfalls), und deshalb konnte es kein Recht geben. Das Recht ist intersubjektiv. Es besteht aus sozialen Regeln. Sie setzen immer voraus, dass es eine »Sozietät« von Menschen gibt. Diese Menschen müssen die Regeln als gemeinsame Regeln betrachten, damit das Recht wirken kann. Selbst die allseits beliebte Umgehung von Gesetzen ist nur sinnvoll, wenn sie, die Gesetze,  eigentlich gelten. Ob wir die Regeln als gottgegeben anerkennen, oder deshalb, weil ein Herrscher sie angeordnet hat oder, weil wir sie vereinbart haben, darüber kann man streiten. Nicht streiten kann man darüber, dass die Rechtsregeln nur dann ihren Zweck erfüllen können, wenn ihre Geltung und Anwendung allgemein ist.

Dazu aber müssen sie verstanden werden, und zwar von allen und in dem gleichen Sinn. Das kann vor allem in kleinen Gemeinschaften, manchmal auch in großen Verbänden intuitiv geschehen, also ohne die Anwendung von Denk- und Sprachregeln. So war es alten Mythen zufolge im »Goldenen Zeitalter«. Die Menschen taten von selbst das Rechte und brauchten dazu keine geschriebenen Gesetze und keine Richter. Sobald es aber Konflikte gibt, braucht man Regeln. Sie müssen überpersönlichen Denk- und Sprechmustern folgen, die nach Möglichkeit jedem einleuchten. Ohne eine solche überindividuelle Sprache gibt es keine Möglichkeit über Konflikte friedlich zu streiten. Und das wiederum ist der Sinn des Rechts: Ohne Gewaltanwendung nach Regeln streiten und entscheiden können. Gewiss kann man Ordnung auch ohne Regeln und »langes Gelaber« schaffen, nämlich indem man auf den Tisch haut oder auf den Putz: also durch Gewalt. Dann aber ist es die Ordnung der Wölfe. Recht ist etwas anderes.

3. Recht und Gefühl – zwei Welten?

Man könnte also auf den Gedanken kommen, dass Recht mit Gefühlen nichts zu tun haben darf. Denn, wie wir sehen: Während Gefühle aus dem Dschungel des Körperinneren heraus angreifen wie die Guerilleros, ist Recht ein lichtes Phänomen, es sucht die und wirkt in der Öffentlichkeit, wenn es denn wirklich Recht ist und nicht nur eine Bemäntelung von Machtgelüsten. Deshalb achten die Gerichte, wenn man ihren Worten trauen darf, streng darauf, dass Urteile im Licht der Logik bestehen können. Es gilt als ein »Rechtsfehler«, wenn eine Urteilsbegründung in sich widersprüchlich ist, wenn sie dasjenige außer Acht lässt, was jedem einleuchten muss. Gefühle sind nicht logisch, sie nisten an einem Ort, der von Widersprüchen wimmeln kann. »Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît point.«, sagte der Physiker und Philosoph Blaise Pascal: Das Herz hat seine Gründe, von denen die Vernunft nichts versteht.

Für die Vorstellung, Recht müsse eine Frage des Verstandes sein und nicht des Gefühls, gibt es viele gute Gründe. Recht wird als Wissenschaft an den Universitäten gelehrt und Wissenschaft kann wohl nur etwas sein, das für die Regeln der Logik jedenfalls offen ist. Richter sollten unabhängig von persönlichen Vorlieben urteilen, nicht Interessengruppen dienen und um das zu gewährleisten, sollten sie nicht unkontrollierbaren Gefühlen, sondern Gedanken folgen, die man nach objektiven Regeln auf ihre Richtigkeit untersuchen kann. Ob etwas Urkundenfälschung ist oder nicht, sollte nicht davon abhängen, welche Regierung gerade im Amt ist oder welche Hautfarbe der Täter hat oder welcher Religion er anhängt oder wie die Richterin geschlafen hat. Recht als eine gefühlsneutrale Dimension des Denkens und des Entscheidens zu betrachten, ist eine Einstellung, die aller Ehren wert ist. Ist sie aber auch realistisch?

Fortsetzung folgt

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