Schelmenmoral 1 (01.03.20)
In vielen Gesprächen, die derzeit in Thüringen geführt werden, taucht die Frage auf, was eigentlich mit den Politikern los ist. Sind sie von einem Virus befallen, das ihre Urteilskraft angegriffen hat? War Alkohol im Spiel? Wollte man den Berlinern einen Streich spielen, weil man erkannt hat, dass sie gar nicht so klug sind, wie sie denken? Oder war es, wie ein Freund mutmaßte, schlichtweg ein Sprach- und Mentalitätsproblem?
Es hat den Anschein, dass die Anfang Februar aus Berlin herbeigedüsten Staatsträgerinnen und Staatsträger, als sie in Erfurt klare Verhältnise schaffen wollten, etwas Entscheidendes nicht wussten, ja nicht einmal ahnten. Nämlich, dass es erstens überhaupt und zweitens speziell in Thüringen sehr schwer wenn nicht unmöglich ist, auf Schwarz-Weiß-Fragen eindeutige Antworten zu bekommen.
Man muss zunächst in Rechnung stellen, dass die scharfe Trennung zwischen Ja und Nein ohnehin auf einem übertrieben binären Weltbild beruht, dem durch die Algorithmisierung politischer Prozesse unglückseligerweise immer mehr Vorschub geleistet wird, zum Nachteil einer der Komplexität nicht nur der Thüringer Gesamtlage angemessenen flexiblen politischen Praxis. In Wahrheit gibt es ja zwischen dem ein-eindeutigen Ja und dem ein-eindeutigen Nein tausend Zwischenlagen und dementsprechend viele Spielarten im Gebrauch der beiden Wörter: Vom zögernden und fragenden Ja über das Ja, aber nicht sofort und das Ja, wenn ichs mir nicht anders überlege bis zum ironischen Nein, das eigentlich ein Ja ist. Hinzu kommt, dass die Eindeutigkeit des Wortlauts immer noch nuancierend, kommentierend, ja konterkarierend durch Gestik, Mimik und Tonfall begleitet werden kann. In Thüringen ist das alles noch ein wenig komplizierter. Denn, wie ich als Rheinländer aus inzwischen zwanzigjährigem Aufenthalt in Thüringen weiß, ist der Thüringer als solcher ein lebenskluger, grundgelassener, höflicher, harmoniebedürftiger und in gewisser Weise poetischer Mensch, der – nach Art der chinesischen Weisheitslehrer des 2. Jahrtausends vor Christus – ein klares Nein gar nicht kennt oder jedenfalls so lange wie irgend möglich vermeidet, vor allem gegenüber Leuten, die er nicht kennt und die mit einer gewissen Aura der geistigen Überlegenheit daherkommen. Solchen Leuten widerspricht man ungern und gibt ihnen lieber das Gefühl, man sehe die Dinge ähnlich wie sie und bestimmt werde alles zu ihrer Zufriedenheit ausgehen. Immer natürlich mit der für die einen sensiblen Gesprächspartner durchaus erfühlbaren Mentalreservation, es sich alles nochmal anders zu überlegen. Und bei Thüringer Männern kommt noch hinzu, dass sie, bevor sie verbindliche Erklärungen abgeben, ohnehin immer noch vorher ›die Regierung‹ fragen müssen, wobei unter ›Regierung‹ in diesem Fall selbstverständlich die Ehefrau zu verstehen ist.
Es war sicher nicht einfach für AKK in diesem äußerlich so harmlos erscheinenden Dschungel aus unklaren Gefühlslagen und hinhaltenden Widerständen nach eindeutigen Aussagen zu suchen. Erschwert wurde ihr und den Berliner Profis das Ganze wahrscheinlich auch noch aus einem anderen Grund: Sie dürften kaum geahnt haben, dass jedenfalls das mittelthüringische Wort für ›Ja‹ gar nicht ›Ja‹ sondern, als hätte es der Erfinder des Dialekts schon auf Irreführung abgesehen, ›No‹ heißt. Vielleicht hat AKK also den armen Mike Mohring gefragt, ob er mit der AfD zusammenarbeiten wolle, und er hat sie freundlich aus seinen unschuldigen braunen Augen angeschaut und einfach ›No, no‹ geantwortet und sie wird sich gedacht habe: Wenn er schon auf Englisch antwortet, dann ist ja alles in Butter!
Kein Wunder also, dass die Gespräche AKK-Thüringer CDU-Landtagsfraktion so endlos lange dauerten, ohne dass bis heute – Stand 1. März 2020 – irgendjemand wüsste, was wirklich Sache ist.
Vielleicht ist das aber auch noch nicht die ganze Erklärung. Es könnte sein, dass die Berliner Führungskräfte denselben Fehler machen, den sogar Gottvater einst machte, als er Adam und Eva verbot, sich durch Kostproben vom Baum der Erkenntnis weiterzubilden. Solche Verbote wecken die Neigung zum Ungehorsam. Der Mensch will wissen, ob wirklich alles so bleiben muss wie es ist. Und das findet man, sei es auch zum eigenen Schaden, am besten durch strategischen Ungehorsam heraus. Eigentlich weiß das jedes Kind.