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Seuchen und Sonette – Johann Wolfgang von Goethes Gedicht »Nemesis« (15.03.20)

 

Für Lothar Hütig  

Wie verhält man sich, wenn eine Seuche ausbricht? Eine Seuche bedeutet: Es besteht hohe Ansteckungsgefahr. Die Seuche ist eine soziale Macht. Will man ihr entgehen, tut man gut daran, seine gesellschaftlichen Kontakte gering zu halten und zu kontrollieren. Es kann ja auch abgesehen von Seuchengefahren von Vorteil sein, den geselligen Zerstreuungs-Angeboten eher zaudernd zu begegnen. Das Verpassen von Gesellschafts-Ereignissen ist oft ein Segen.

Ansteckungsgefahr kommt nicht nur bei körperlichen Krankheiten vor. Es gibt z. B. auch gewisse Verhaltensweisen, z. B. Formen des Redens oder des Sich-Kleidens, die ansteckend wirken. In der Goethezeit gab es unter Dichtern die grassierende Sonett-Mode. Jeder, der konnte, und auch wer es nicht so besonders gut konnte, schrieb 14-zeilige Gedichte nach Petrarcas Maß. Goethe nannte die besonders gefühlsseligen Produkte dieser Gattung abschätzig »Lacrimassen«, also Tränenfluten, indem er sich auf ein allgemein als übler Kitsch angesehenes Theaterstück »Lacrimas« des schwerkatholischen Dichters Wilhelm von Schütz (1776–1847, genannt »Schütz-Lacrimas«) bezog. Goethe glaubte lange, dieser von ihm als Seuche bezeichneten Mode widerstehen zu sollen. Ebenso wie er zu gewissen Zeiten glaubte, sich den eigenen Liebesgefühlen entgegenstellen zu müssen. In dem Sonett »Nemesis« bekennt er, die Folgen seiner Verweigerung nicht bedacht zu haben: Dass nämlich die Seuche sich rächen kann, indem sie den, der sich ihr entziehen wollte, nur umso boshafter verfolgt – wie die Erinyen, die rasenden Rachegöttinnen mit der Schlangenfackel – und er schließlich doch noch der Ansteckungsgefahr erliegt.

Daran musste ich denken, als ich dieser Tage las, was ein führender Virologe zur Corona-Epidemie sagte: Es sei wahrscheinlich gar nicht so klug, die Seuche jetzt mit aller Macht stoppen zu wollen, weil sie dann im nächsten Winter umso mächtiger zurückkehren werde.

Weder das Zaudern und Verpassen noch die beherzte und lustvolle Inkaufnahme der Ansteckungsgefahr ist ein verlässlicher Weg zum Glück. Die Unsicherheit bleibt. Wir müssen sie wohl, wenn wir sie nicht lieben können, wenigstens akzeptieren.

Johann Wolfgang von Goethe:

Nemesis

Wenn durch das Volk die grimme Seuche wütet,
Soll man vorsichtig die Gesellschaft lassen.
Auch hab’ ich oft mit Zaudern und Verpassen
Vor manchen Influenzen mich gehütet.

Und ob gleich Amor öfters mich begütet,
Mocht’ ich zuletzt mich nicht mit ihm befassen.
So ging mir’s auch mit jenen Lacrimassen,
Als vier – und dreifach reimend sie gebrütet.

Nun aber folgt die Strafe dem Verächter,
Als wenn die Schlangenfackel der Erinnen
Von Berg zu Tal, von Land zu Meer ihn triebe.

Ich höre wohl der Genien Gelächter;
Doch trennet mich von jeglichem Besinnen
Sonettenwut und Raserei der Liebe.

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