1629

Essays und Vorträge

Solon von Athen

Glück, Gerechtigkeit und Poesie


Christoph Schmitz-Scholemann

Unveröffentlicht, geschrieben 1993.

 

Sp. 1:
Manche hielten ihn für verrückt. Er schrieb Gedichte gegen Geldgier und Ausbeutung. Heute würde man sagen: Ein politi­scher Lyriker. Ein Unbelehrbarer. Einer, dar sich einbildet, er könne die Welt verbessern, wenn er seine Worte richtig setzt. Aber tun das nicht auch die weltkundi­gen Staatsprak­tiker? Wenn sie in ihren Gesetzen jedes Wort zwei und drei­mal umdrehen – dann doch wohl deshalb, weil sie glauben, daß die Worte etwas bewirken, und zwar zum Besseren. Solon von Athen, um den es hier geht, tat beides: Er schrieb Gedichte und gab seiner Stadt Gesetze. Das Volk feierte ihn als Be­freier. Wieder und wieder, selbst noch im Greisenalter, leg­te er sich mit den Mächtigen an. Dabei wollte er eigent­lich nur glücklich sein, und zwar in einem ganz einfachen und leich­ten Sinn: eine schöne Frau, gesunde Kinder, Freunde und ein Stück Land. Deshalb ist die Geschichte von Solon eine Geschichte über Glück, Gerechtigkeit und Poesie. Deren er­stes Kapitel handelt vom Goldenen Zeitalter.

Sp. 2:
Als Solon zur Welt kam, erzählte man den Kindern die Sage vom Golde­nen Zeitalter. Dieser Sage zufolge muß das Leben der soeben von den Göttern erschaffenen Menschen ein wahres Gedicht gewesen sein. Sie folgten bei allem, was sie fühlten und taten, dem Rhythmus ihrer göttli­chen Natur.

Sp. 1:
Hesiod, Werke und Tage, Verse 109, 112–116

Sp. 3:
»Anfangs schufen die Götter ein goldnes Menschengeschlecht …
Sorgenlos glücklich, wie die olympischen Götter lebten die Menschen,
Ferne den Mühen und ferne der Trübsal; auch das Alter
Traf sie mitnichten, an Händen und Füßen immer gelenkig
Freuten sie sich bei Gelagen, allem Übel immer entrückt.«

Sp. 2:
»Auch als die Menschen die Bekanntschaft des Unglücks machen muß­ten, blieb ihnen zunächst noch etwas, um das wir sie nicht genug beneiden können, eine gute und gerechte Regierung. Die Herrscher ga­ben dem Leben der Gemeinschaft Sinn und Form.«

Sp. 1:
Seneca, Briefe an Lucilius über Ethik, Vierzehntes Buch, Neunzigster Brief

Sp. 3:
»In jenem Zeitalter also, das man das ›Goldene‹ nennt, lag die Königsherr­schaft … in den Händen der Weisen. Sie hielten die Gewalttätig­keit im Zaum und schützten den Schwächeren vor dem Stärke­ren, rieten zu und rieten ab und zeigten das Nützliche sowie das Schädliche; ihre Umsicht traf Vorkehrun­gen, damit es den Ihren an nichts fehle, ihre Tapferkeit hielt Gefahren fern, ihre Güte mehrte den Wohlstand und verschönerte das Dasein ihrer Untertanen. Zu regieren bedeu­tete nicht Despotie, sondern die Erfüllung einer moralischen Pflicht. Niemand hatte die Absicht oder einen Grund zu gewalttätigem Aufstand, da man einem guten Herrscher gern gehorchte und der König den Ungehorsamen nichts Ärgeres androhen konnte als seine Abdankung …«

Goldene Zeiten, weiß Gott! So milde waren damals die Herzen der Her­ren und ihre Taten so königlich klug, daß man, um ihre Macht in Bahnen zu halten, nicht einmal Gesetze brauch­te. Aber es gab auch Un­glück. Unglück im Großen; Kriege, Er­dbeben, Überschwemmungen, Feuersbrünste, verhagelte Ernten; und Unglück im Kleinen: Krankheit, Eifersucht, Raub und Mord. Der gute König half, wo er konnte. Aber er konnte nicht immer. Den Übergriffen der Naturkräfte einschließlich der menschlichen Bosheit hatte er letztlich nur eines entge­genzusetzen – näm­lich den Glauben, daß all das Unberechen­bare im Leben, gleich ob Naturkatastrophen oder Kriege, so­ziale Zusammenbrüche oder private Desaster, einzig und al­lein auf persönlichen Eingriffen der Götter be­ruhte. Infol­gedessen bemühten sich die Könige um ein günstiges Verhält­nis zu den Göttern. Sie beteten viel und opferten noch mehr; man baute den Göttern Häuser und trank auf ihr Wohl; Kochge­schirr und Gold schleppte man an die Altäre, Blut floß an den heiligen Stätten, Blut von Schafen und Stieren, aber auch Menschenblut. Man war fromm im golde­nen Zeitalter, aber man war auch unwissend; die Menschen steckten voller Angst, denn sie wussten, dass sie sterblich waren, und sie waren abergläubisch, Die Könige neigten ihr Haupt vor angeblich göttlichen Baumstrünken, und sie beteten Zie­genböcke an.

Das Goldene Zeitalter versank. Was blieb von der alten Ordnung war ein schöner Nachklang: in den Gedichten der Lyriker und in den Träu­men der Philosophie von einer besseren Welt.

Sp. 1:
Seneca, Briefe an Lucilius über Ethik

Sp. 3:
»… nachdem durch schleichende Verbreitung von Lastern die Königs­herrschaft zur Tyrannei entartet war, begannen Gesetze unentbehr­lich zu werden, und auch diese gaben anfänglich die Weisen. Solon, der Athen auf die Basis der Rechtsgleichheit gestellt hat, gehörte zu den berühmten ›Sieben Weisen‹.«

 

Sp. 1:
Zweites Kapitel: Die Sieben Weisen

Sp. 2:
»Die Zeit um die Wende vom siebenten zum sechsten Jahrhundert v. Chr. pflegt nach dem Vorgange der Alten als das Zei­talter der Sieben Weisen bezeichnet zu werden. Es ist ein Zeitalter der Reflektiertheit; gebrochen ist die unbefangene Hingabe an die Lebensgewohnheiten der Vorzeit, das Volksbe­wusstsein ist im Innersten aufgewühlt, die Individuen begin­nen ihre eigenen Wege zu gehen, und bedeutende Männer treten mit ernster Mahnung auf … Lebensregeln werden aufgestellt … in witzigen Wendun­gen wird die moralisierende Predigt schmackhaft gemacht, geflügelte Worte fliegen von Mund zu Mund …«

Sp. 1:
Wilhelm Windelband, Geschichte der Philosophie im Altertum, Nördlingen 1888

Sp. 2:
Ob in den schattigen Säulenhallen der Philosophenschulen oder auf den Märkten zwischen Knoblauch, Oliven und Stock­fisch – überall rund ums Mittelmeer würzte man seine Reden mit den lebensklugen Sätzen der Sieben Weisen. So entstand ein Schatz von Sentenzen, der im Laufe der Jahrhunderte in Gestalt von Sprichwörtern auf den Grund des Stroms der Überlieferung sank, bevor ihn die geduldige Akribie der Alter­tumsforscher wieder zu Tage för­derte. Einige Beispiele.

Sp. 1:
Kleobul von Rhodos spricht:

Sp. 3:
»Sklaven beim Wein nicht prügeln; sonst hält man dich für betrun­ken!«

Sp. 1:
Chilon aus Sparta sagte:

Sp. 3:
»Auf der Straße haste nicht, um andere zu überholen!«

Sp. 1:
Thales aus Milet sprach:

Sp. 3:
»Unbildung ist eine Last; Untätigkeit ist eine Qual.«

Sp. 1:
Pittakos aus Lesbos sagt:

Sp. 3:
»Zuverlässig das Land, unzuverlässig das Meer.«

Sp. 1:
Bias aus Priene sprach:

Sp. 3:
»Von den Göttern sage: sie sind.«

Sp. 1:
»Periander von Korinth sprach:«

Sp. 3:
»Ruhe ist schön. Halte dich an alte Gesetze, aber an frische Speisen.«

Sp. 1:
Solon von Athen sagte:

Sp. 3.
»Wisse und schweige! Das Unsichtbare erschließe aus dem Sichtba­ren.«

Sp. 2:
Um die Sieben Weisen rankten sich wundersame Legenden; einer von ihnen soll sogar auf einem Delphin durch die Ägäis ge­ritten sein. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei ihnen nicht um Märchenfiguren handelte, sondern um historische Personen, die an der Schwelle zum Zeitalter der schriftlichen Überlieferung gelebt haben. Hei­lig waren sie nicht, aber dafür klug; von Beruf Bürgermeister, Rich­ter, Dichter, Mathematiker, Handwerker – oder auch mehreres davon zu­gleich. Wie das Volk ihr Andenken hochhielt, zeigen am besten einige anonyme Inschriften, die vor gut hundert Jahren in Ostia entdeckt wur­den – an der Wand eines zweitau­send Jahre alten Pissoirs.

Sp. 3:
»Der überschlaue Chilon lehrte leise furzen.«
»Wer harten Stuhlgang hat, soll drücken, mahnte Thales.«‘
»Um gut zu kacken, rieb sich Solon seinen Bauch.«

Sp. 2:
Wenn wir weiter nichts wüßten über Solon, als daß sein Name gut ein halbes Jahrtausend nach seinem Tode noch bekannt ge­nug war, um für Toiletten-Lyrik zu taugen – so müßten wir schon daraus schließen, daß er sich dem Gedächtnis des Vol­kes tief eingeprägt hat. Glücklicherweise wissen wir aber wesentlich mehr, vor allem durch Plutarch, einen Histori­ker aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus. Er hat eine Bio­graphie Solons hinterlassen.

 

Sp. 1:
Drittes Kapitel: Auf nach Salamis!

Sp. 2:
Wenige Meilen vor Athen liegt die Insel Salamis, breit und schwer wie ein versteinertes Schlachtschiff im Meer, in feindlicher Hand eine Bedro­hung für Athen. aber ein gutes Bollwerk, wenn es Athen gehörte. Um den Be­sitz dieser Insel stritten seit ewigen Zeiten Athen und die Nachbarstadt Megara. Es wurden viele Kriege geführt.

Sp 1:
Nach Plutarch: Große Griechen und Römer, Solon und Poplicola:

Sp. 3:
›Als die Athener eines langen und verlustreichen Krieges mit den benach­barten Megarern um die Insel Salamis müde geworden waren und ein Gesetz gemacht hatten, mit dem es bei Strafe des Todes verboten war, im Rat einen Antrag auf Eröffnung des Kriegs gegen Salamis zu stellen, da litt Solon schwer unter dieser Schmach. Da er bemerkte, daß viele junge Leute genauso dachten wie er, sich aber wegen des Gesetzes nicht trauten, ihre Meinung öffentlich zu sagen, ließ Solon das Gerücht in die Stadt ausstreuen, er sei wahnsinnig geworden. Er stellte sich verrückt. Heimlich schrieb er ein Gedicht und lernte es auswendig. Dann, eines Tages, setzte er sich ein sonderbares Hütchen auf den Kopf und sprang durch die Stadt. Als sich viel Volk auf dem Markt versammelt hatte, stieg er auf den Stein des Herolds und deklamierte seine Elegie, deren Anfang lautet:

Sp. 3:
Auf nach Salamis wollen wir segeln, im Kampf die schöne Insel gewin­nen und endlich die Feigheit verlieren.‹

Sp. 2:
Solons Karriere als Dichter beginnt also, wenn man es in heutige Be­griffe fasst, mit einem nationalistischen Bocksgesang und mit einem einiger­maßen raffinierten Gesetzesverstoß – der übrigens erfolgreich war: Athen raffte sich zu einem neuen Krieg auf und eroberte Salamis zurück; nach manchen Berichten führte der junge Solon dabei ein abenteuerlusti­ges Kommando – aber wir sparen uns diese blutigen Details der Außenpoli­tik, denn viel interessanter ist die »kylonische Verschwörung«. Mit ihr begann Solons innenpolitische Karrie­re. Es ging um einen Olympia­sieger, um eine Revolution und um das Asylrecht.

 

Sp. 1:
Viertes Kapitel: Die kylonische Verschwörung

Sp. 2:
Bei den 35. Olympischen Spielen im Jahre 640 v. Chr. errang Kylon von Athen einen glanzvollen Sieg im Pferderennen. Kylon war ein Sport­ler von der Art, wie sie in unseren Zeiten bei kritischen Journalisten beliebt sind: Er machte sich Ge­danken, und zwar vor allem über politi­sche Dinge. Dabei muß er ein wenig durcheinander gekommen sein. Den Ju­bel der At­hener Bevölkerung anläßlich des Olympiasiegs jedenfalls buchte er nicht auf das Konto seines Pferdeglücks, son­dern auf das seiner politischen Ambitionen; wer immer ihm den Floh ins Ohr gesetzt hatte – ein paar Jahre nach dem Olympiasieg versuchte er einen Staatsstreich. Er scheiterte. In seiner Not floh er samt Genossen an den Altar auf der Ak­ropolis. Da fühlten sie sich sicher.

Seit alters her hatte jeder – ob Sträfling, Fremdling oder Sonderling – ›asylia‹: das Recht auf körperliche Unverletz­lichkeit, solange er in direk­ter, körperlicher Verbindung zum Altar stand. Der Altar gehörte Gott. Keine irdische Macht hatte hier etwas zu suchen. Das war heiliges Recht. Wer es verletzte, griff die Götter an.

So flieht in einem Theaterstück des Aischylos eine Gruppe ägyptischer Asylantinnen an den Altar der Stadt Argos und beschwört den König:

Sp. 3:
»Fortgeschleppt wollest du uns
Von dem Herd dieser Götter nimmer sehn,
Landes einiger Herrscher du!
Sieh der Männer Frevelmut! …
Duld es nie, mich die um Schutz fleh’nde frech
Mich von den Bildern fort, mich wie ein Roß mit Gewalt
Beim stirnumflochtenen,
Farbigen Band, beim Kleid fort mich gezerrt zu sehn.
Wiss es wohl, deinen Kindern, deinem Haus –
Wie du auch wählst, euch bleibt, blutig zu büßen einst
Gleiches mit Gleichem noch,
Wie ja, bedenk ’s – des Zeus ewige Ordnung ist.«

Sp. 2:
Der Revolutionär Kylon hatte also guten Grund, sich am Altar sicher zu fühlen. Sein Gegenspieler, der Stadtregent Megakles, ließ den Tempel von Soldaten umstellen. Er versprach Kylon freies Geleit, wenn er das Asyl verließe. Kylon ging darauf ein, band aber vorsichtshalber einen Wollfaden am Al­tar fest. Während die Aufrührer die Tempelstufen hinunter­stiegen, hielten sie sich an dem Faden fest. Sie wollten die körper­liche Bindung an den Altarstein nicht verlieren. Aber Megakles zerriß den Wollfaden und ließ die Aufständischen niederknüppeln. Außer Kylon selbst überlebte keiner von ihnen.

Aus Polizeisicht war das ein Erfolg für die Staatsmacht. Und doch … Ei­nige Athener Bürger, vor allem die Bauern, warfen Megakles vor, die­sen Erfolg nur durch Bruch des Asylrechts gewonnen zu haben, »Asylfrev­ler« nannte man Megakles und seine Leute. Der Streit schwelte über Jahre und erhielt im­mer wieder neue Nahrung, weil die Athener Bauern für immer weniger Geld immer härter arbeiten mußten. Sie scho­ben ihre jämmerliche wirtschaftliche Lage Megakles in die Schuhe, weil der durch den Asylfrevel die Stadtgöttin erzürnt habe. So mischten sich religiöse und soziale Empörung. Ein Bür­gerkrieg wäre unvermeidlich gewesen, wenn sich nicht der da­mals noch junge Solon als Schlichter eingeschaltet hätte. Er schlug ein Gerichtsverfahren zur Aufklärung des »Asylfre­vels« vor. Das Urteil fiel hart aus: Die noch lebenden Asylfrevler mußten das Land verlassen, und die Leichen der bereits verstorbenen wurden ausgegraben und über die Grenzen geworfen.

 

Sp. 1:
Fünftes Kapitel: Glückskatalog

Sp. 2:
Daß ein Dichter oder ein Philosoph heute in die Politik geht, ist selten. Daß er dabei kein Unheil anrichtet, erst recht. Warum ist das so? Er war zu gut für die Politik, so lautet ein übliches Urteil über den in der Politik geschei­terten homme de lettre, ein anderes: Moral und Politik – das paßt eben nicht zusammen. Wenn wir so denken, dann setzen wir voraus, daß der literarische Mensch einen irgendwie tie­feren Begriff von Gut und Böse, von Glück und Unglück hat als der Politiker; der Politiker, so neh­men wir an, versteht unter Glück im günstigsten Fall, daß seine Mitbür­ger ein Huhn im Topf und Wein im Keller haben. Wenn wir dagegen die mo­ralischen Schriftsteller aufschlagen, ob Böll oder Kant, Plato oder Seneca: fast alle sehen das wahre Glück, die Be­stimmung des Menschen als eine ethische Größe an, die viel mit Tugend und Wahrheit, mit Ver­nunft und Nächstenliebe zu tun hat, wenig aber mit fetten Hühnern und altem Wein. Kei­ner der genannten Schriftsteller hätte sich den Gedanken er­laubt, glücklich zu sein sei die reine Freude.

Was Solon unter Glück verstand, hat er in einem Gedicht auf­geschrie­ben, das den Titel Glückskatalog erhalten hat:

Sp. 3:
»Glücklich, wem liebliche Knaben sind und feurige Russe, Jagdhunde und ein Freund, der Ausländer ist,
Gleicherweise ist reich, dem vieles Silber zu eigen und Gold und weite Strecken der weizentragenden Erde …
Rosse, Maulesel auch; und wem dies alles zuteil ward, freut sich in Flan­ken und Bauch und schlürft üppig, so viel er vermag.
Sei es ein Knabe zuerst, so erfreut ihn, wenn er gereift ist … die Frau.
Weiter bedarf er zu seinem Glücke nichts.«

Sp. 2:
Ungewöhnliche Sätze für einen Dichter und Denker. Keine Dun­kel­heit, kein Anflug von Bitternis, keine hohen Worte und keine tieferen Dinge, keine Vertröstung aufs Jenseits, keine Trennung zwischen äußeren Glücksumständen und dem, was wir unter inneren Werten verstehen, auch keine moralische Diffe­renz zwischen den Spielarten der Geschlechts­lust; dem Dies­seits und der Gegenwart ein Kuß! Es ist alles die reine und schlürfende Äußerlichkeit, nichts als Freude in Flanke und Bauch. Manchem mag der chinesische Philosoph Lao Tse in den Sinn kommen mit dem berühmten Satz: »Füllet die Bäuche/Leeret die Köpfe!«

Solche Bereitschaft, sich in Liebe zum Diesseits und zur Äu­ßerlichkeit zu verlieren – ist das vielleicht der Schlüssel zum Erfolg für einen Politi­ker? Jedenfalls muß, wer sich so dem Diesseits zuwendet, auch mit Enttäu­schungen rechnen.

 

Sp. 1:
Sechstes Kapitel: Solon bei Thales von Milet

Sp. 2:
Solons Vater hatte das Vermögen seiner uralten Adelsfamilie mehr oder weniger durchgebracht, so daß der junge Salon not­gedrungen ver­schiedentlich zum Äußersten schreiten mußte: zur Arbeit. Dies allerdings nicht wie ein Bauer »mit gebeugtem Rücken und auf die Scholle gehefte­ten Augen«, son­dern als einer, dessen Blick die Weite des Meeres und die Gesichter der Menschen zu lesen lernte, als Fernhandels-Kaufmann. Er lernte Sitten und Gesetze fremder Völker von Ägypten bis ins südliche Rußland kennen. Er studierte – so berichtet Platon – die Verfassung des sagenhaften Staates Atlantis und schloß Freundschaft mit dem Mathemati­ker und Philosophen Thales von Milet.

Sp. 1:
Plutarch, Große Griechen und Römer, Solon und Poplicola:

Sp. 3:
»Als Solon zu Thales nach Milet kam, heißt es, drückte er seine Verwun­derung aus, daß Thales gar nicht ans Heiraten und Kinderzeu­gen gedacht hatte. Thales schwieg fürs erste, nach Verlauf weniger Tage aber stiftete er einen Fremden dazu an, zu behaupten, er, der Fremde, sei vor zehn Tagen von Athen abge­reist. Als nun Solon den Fremden fragte, ob es etwas Neues in Athen gäbe, antwortete der Mann, wie ihm Thales geheißen hatte: ›Nichts Besonderes, außer, ja, daß die Beerdigung ei­nes Jünglings stattfand und die ganze Stadt mitging. Denn er war, wie die Leute sagten, der Sohn eines sehr angesehenen und durch besondere Tüchtigkeit ausgezeichneten Bürgers, Er war aber nicht da, sondern, wie es hieß, schon seit langer Zeit auf Reisen.‹

›Der Unglückliche!‹ sagte Solon. ›Wie nannten sie ihn denn?‹

›Ich habe den Namen gehört,‹ sagte der Mann, ›aber ich kann mich nicht auf ihn besinnen. Doch wurde viel von seiner Weisheit und Gerechtig­keit gesprochen.‹

So wurde mit jeder Antwort Solon in immer größere Furcht versetzt und brachte schließlich ganz bestürzt den Fremden selbst auf den Na­men, indem er ihn fragte, ob etwa der Ver­storbene ein Sohn Solons sei. Als der Mann das bejahte, war Solon schon im Begriff, sich gegen den Kopf zu schlagen und zu handeln und zu reden wie Menschen in tiefster Betrübnis, da faßte ihn Thales bei der Hand und sagte: ›Siehst du Solon, dies bringt mich eben vom Heiraten und Kinderzeugen ab, was selbst dich starken Mann umwirft. Aber beruhige dich dieser Geschichte wegen: sie ist nicht wahr.‹

 

Sp. 1:
Siebentes Kapitel: Epimenides

Sp. 2:

Während Solon auf Reisen war, gingen die Dinge in Athen nicht zum Besten. Eine sonderbare Unruhe herrschte in der Stadt. Epimenides, ein Wanderredner aus Kreta, erschien für einige Monate in Athen, nachdem ›die Asylfrevler‹ die Stadt verlassen hatten. Er hielt finstere Bußpredigten, er­mahnte die Reichen zur Schlichtheit, die Armen zur Mäßigung ihres Zorns und alle beide zur Rückkehr zu dem guten und einfachen Leben der Väter. Die einfachen Leute liebten ihn; sie unter­zogen sich begeistert den Entsühnungsritualen und Reinigung­sopfern, die er ihnen abver­langte; noch Jahrhunderte später erzählte sich das Volk die unglaublichs­ten Geschichten von dem Wundermann: seine Mutter sei eine Waldgöt­tin gewesen und sein Vater ein Kurete, einer der wilden, lärmenden Geburts­helfer des Zeus.

 

Sp. 1:
Achtes Kapitel: Die soziale Frage

Sp. 2:
Die große soziale Frage dieser Zeit war aber mit Bußpredigten und Reini­gungsritualen nicht zu lösen.

Sp. 1:
Friedrich Schiller: Die Gesetzgebung des Lykurgos und Solon.

Sp. 2:
»Die Noth zwang die ärmeren Bürger zu den Reichen ihre Zuflucht zu nehmen, zu eben den Blutigeln, die sie ausgeso­gen hatten; aber sie fanden nur eine grausame Hülfe bei die­sen. Für die Summen, die sie aufnahmen, mußten sie ungeheure Zinsen bezahlen, und wenn sie nicht Termin hielten, ihre Ländereyen selbst an die Gläubiger abtreten. Nach­dem sie nichts mehr zu geben hatten, und doch leben mußten, waren sie dahingebracht, ihre eigenen Kinder als Sklaven zu ver­kaufen, und end­lich, als auch diese Zuflucht erschöpft war, borgten sie auf ihren eigenen Leib, und mußten sich gefallen lassen, von ihren Kreditoren als Sklaven verkauft zu werden. Gegen diesen abscheulichen Menschenhandel war noch kein Ge­setz in Attika gegeben, und nichts hielt die grausame Hab­sucht der reichen Bürger in Schranken. So schrecklich war der Zustand Athens. Wenn der Staat nicht zugrunde gehen sollte, so mußte man die­ses zerstörte Gleichgewicht der Gü­ter auf eine gewaltsame Art wieder-herstel­len.«

Sp. 1:
Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats

Sp. 3:
»Sämtliche Feldfluren Attikas starrten von Pfandsäulen, an denen ver­zeichnet stand, das sie tragende Grundstück sei dem und dem verpfändet um soundso viel Geld. Die Äcker, die nicht so bezeichnet, waren großen­teils bereits wegen verfallner Hypotheken oder Zinsen verkauft, in das Eigentum des adligen Wucherers übergegangen; der Bauer konnte froh sein, wenn ihm erlaubt wurde, als Pächter darauf sitzenzubleiben und von einem Sechstel des Ertrags seiner Arbeit zu leben, während er fünf Sechstel dem neuen Herrn als Pacht zahlen mußte. Noch mehr. Reichte der Erlös des verkauften Grund­stücks nicht hin zur Deckung der Schuld …, so mußte der Schuldner seine Kinder ins Ausland in die Sklaverei verkau­fen, um den Gläubiger zu decken. Verkauf der Kinder durch den Vater – das war die erste Frucht des Vaterrechts und der Monogamie! … Das war die angenehme Morgenröte der Zivilisa­tion beim athenischen Volk!«

Sp. 2:
Solon selbst schrieb über den Zustand seiner Stadt ein Gedicht:

Sp. 3:
»Ganz von Sinnen und von Geldgier verdummt zerstören Bürger des großen Athen
selbst ihre eigene Stadt, Arm in Arm mit den rechtsvergessenen Füh­rern des Volkes …
heilig ist ihnen nichts – ob aus den Schätzen des Staats
oder dem Gold der Götter – sie stehlen wo sie nur können …
Und das Übel breitet sich aus wie reißender Wundbrand,
unsere ganze Stadt wird eine Sklavin des Geldes.
Blutiger Aufruhr und Krieg erwachen dann wieder, die so
oft und so jäh zerstört blühende Jugendzeit.
Das sind die Übel die unsre Stadt zerwühlen. Die Armen
aber, für Geld verkauft, schändlich in Ketten gelegt,
Fristen als Sklaven in kalter Fremde ihr elendes Leben …
So treten Kummer und Elend in jedes einzelne Haus, die
Hölzernen Tore des Hofs wehren das Übel nicht ab,
Sondern es springt über Mauer‘ und Zaun ins Zimmer, jagt und
Packt im hintersten Eck jeden, niemand entkommt.«

Sp. 2:
Niemand entkommt – die Ausbeutung schädigt eben nicht nur die Ausge­beuteten: sie steht im Begriff, die alte Ordnung in einen Bürger­krieg zu stürzen und damit die Ausbeuter selbst zu vernichten.

 

Sp. 1:
Neuntes Kapitel: Solon Archon

Sp. 2:
Die Stimmung in den staubigen Gassen der Stadt war also ge­spannt. Die reichen Herren sehnten einen starken Mann her­bei, der den Groll der zerlumpten und hungrigen Armen unter­drücken würde. Die Eisenlan­zen der Ritter hätten ihm zur Verfügung gestanden. Die Bauern wollten ebenfalls einen starken Mann: Sie hofft­en, er werde die Großgrundbe­sitzer notfalls mit Gewalt ent­eignen und das Land neu auftei­len. Knüppel aus Olivenholz lagen zu Genüge bereit. Es roch nach Revolution. In dieser Lage, man schrieb das Jahr 594 vor Christus, wurde Solon zum Archon und Diallektes gewählt, zum Herrscher und Richter der Stadt. Und Solon hatte, so schien es, nur die Wahl zwischen den Holz­knüppeln der Bauern und den eisernen Spießen der Ritter. Er ent­schied sich für keine von beiden, sondern nahm seine Zuflucht zu einer ganz anderen Gewalt. Er setzte sich und schrieb.

Sp. 1:
»Das Objekt, das von aller menschlichen Ewigkeit her Macht enthält, ist die Rede, oder genauer, ihr bindender Ausdruck: die Sprache.«

Sp. 3:
Roland Barthes: Leçon/Lektion, Antrittsvorlesung im Collège de France

 

Sp. 1:
Zehntes Kapitel: Der Gesetzgeber bei der Arbeit

Sp. 3:
»Anacharsis, so heißt es, kam nach Athen zum Hause Salons, klopfte und sagte, er sei als ein Fremdling gekommen, um ein Gastfreundschaftsver­hältnis mit ihm zu begründen. Salon er­widerte, es sei besser, bei sich zu Hause Freundschaften zu schließen. ›Nun denn‹, sagte Anacharsis, ‚du bist ja zu Hau­se. Solaon nahm ihn freundlich auf und behielt ihn eine Zeitlang bei sich, während er schon … an seinen Gesetzen ar­beitete. Als Anacharsis davon hörte, lachte er über diese Bemü­hung Solons, daß er glaubte, mit geschriebenen Verord­nungen die Ungerechtigkeit und Habsucht der Bürger in Schranken halten zu kön­nen; sie seien ja nichts anderes als Spinnweben, welche zwar die Schwa­chen und Kleinen, die sich darin fingen, festhalten, von den Mächtigen und Reichen aber zerrissen werden würden. Solon soll hierauf erwidert haben, die Menschen hielten ja auch Verträge, wenn es für keinen der beiden Partner vorteilhaft wäre, sie zu brechen … übrigens sagte Anachar­sis auch noch, als er einer Volksversamm­lung beiwohnte, daß bei den Griechen die Weisen redeten und die Toren entschieden.«

Sp. 1:
Plutarch, Große Griechen und Römer, Solon und Poplicola

Sp. 2:
Wenn man unter Worten wie ›Handlung‹, ›Tat‹, ›Aktion‹ usw. körper­liche Einwirkungen auf die Welt versteht, und als ihr Gegenteil das bloße Denken und Reden ansieht, dann hat Solon so gut wie nichts getan. Er konnte sich zwar, soviel wir wissen, auf eine kleine Truppe vun Ordnungshü­tern verlassen, von größeren Polizeiaktionen ist aber nichts bekannt. Er wollte den Hütten wohl Frieden bringen, aber nicht um den Preis eines Kriegs – nicht gegen Hütten und nicht gegen Pa­läste. Seine Waffe war das Wort. Er schrieb und sprach. Die Gesetze, nach denen sich die Bewohner Athens in Zukunft richten sollten, setzte er, nach dem Bericht des Plutarch, zu einem guten Teil in Verse. Der Urvater der Geset­zesjuristen war also: ein Dichter, und das Gesetz ein Gedicht.

Solon ließ die Gesetze in mannshohe Holzbalken ritzen. Die Buchsta­ben wurden ausgemalt, damit man sie besser lesen kon­nte. Die Balken liefen oben und unten spitz zu. Mit den Spitzen staken sie in einem Rah­men. So konnte man sie um ihre Längsachse drehen, so ähnlich wie man heute einen Zei­tungsständer dreht. Dieses öffentliche Buch aus Holz wurde in der Unterstadt aufgestellt, downtown Athen, nahe beim Markt. Da kamen alle hin, Bauern und Ritter, Zugereiste, Händler, Handwer­ker, Fischer, auch Frauen und Sklaven. Wer lesen konnte, der las. Und die übrigen redeten nach, was sie hörten. Und wunderten sich womöglich über den schönen Rhythmus der Rechtssätze und wie leicht man sich alles merken konnte.

 

Sp. 1:
Elftes Kapitel: Lastenabschüttelung

Sp. 2:
Die erste und wichtigste Neuerung betraf die Wirtschaft. Solon ließ nicht etwa die Schuldsteine aus den Feldern reißen und das Grundeigen­tum neu verteilen. Was er anordnete, kann man am ehesten als einen Währungsschnitt beschreiben, verbunden mit dem Verbot der Schuldknecht­schaft:

Sp. 3:

»Als Solon zum Herrn der Dinge geworden war, befreite er das Volk für Gegenwart und Zukunft dadurch, daß er die Haftung für Geldschul­den mit dem Leibe verbot … und eine Abminderung der Schulden vor­nahm, der privaten wie der öffentlichen, die man Lastenabschüttelung nennt, weil eine Last gleichsam ab­geschüttelt wurde.«

Sp. 1:
Aristoteles: Die Verfassung der Athener

Sp. 2:
Wie hoch der staatlich verordnete Schuldenerlaß war, und wie das im einzelnen vor sich ging, ist nicht überliefert. Es muß aber ein tiefer Schnitt zugunsten der Schuldner gewesen sein. Denn einige von denen, die, wenn es irgendwo klingelt, immer nur eins verstehen, nämlich: Geld, nutzten die Lastenabschüttelung zu einem Geschäft. Es gab eine regel­rechte Lastenabschüttelungs-Kriminalität, vergleichbar der sogenannten Vereinigungskriminalität Anfang der 90er-Jahre in Deutschland. Noch einmal Aristoteles:

Sp. 3:
»Als … Solon im Begriffe stand, die Schuldabschüttelung vorzuneh­men, sprach er mit einigen seiner Freunde darüber, woraufhin seine Freunde Schulden machten und eine Menge Land kauften, und als kurz darauf die Schulden erlassen wur­den, waren sie reiche Leute … nach der Darstellung derer, die ihm etwas anhängen wollen, soll Solon sich auch selbst daran beteiligt haben … Überzeugender freilich klingt die (gegentei­lige) Behauptung der Volkspartei; denn es ist nicht anzunehmen, daß jemand in allem Übrigen gerecht und uneigen­nützig sich erwies, so daß er, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, die eine Partei sich willfährig zu machen und die Ge­waltherrschaft über die Stadt zu erringen, sich lieber bei­den verhaßt machte und die Ehre und das Wohl des Staates über den eigenen Vorteil stellte, dann aber in so kleinen Dingen, die nicht der Mühe wert waren, sich beschmutzt haben soll …«

 

Sp. 1:
Zwölftes Kapitel: Die Verfassung der Athener

Sp. 2:
Solon wollte Athen eine Verfassung geben, die dem kalten Bürger­krieg den Boden entzöge. Eine Möglichkeit wäre eine auf Bauern und Handwerker gestützte Alleinherrschaft gewe­sen, eine Art sozialistischer Monarchie. Diese Methode war damals in Griechenland Mode.

Daneben gab es das, was man die sado-aristokratische Option nennen könnte, ihrer hatte man sich in Sparta bedient. Dort fanden die alten Herrengeschlechter Kraft genug für eine die Grenze zum Sadismus oft überschreitende Brutalität, um Bauern und Handwerker niederzuhalten.

Solon hatte andere Gedanken. Vielleicht war ihm die überra­gende Be­deutung des Geldes aufgefallen. Das Geld, mag er sich gedacht haben, hat eine wunderkräftige Eigenschaft: Es gibt den Wert einer Sache, ohne doch diese Sache selbst zu sein. Es funktioniert so ähnlich wie die Spra­che, auch die Wörter sind ja nicht die Sachen, sondern sie repräsentieren sie nur im Austausch der Reden. Das Geld ist also ein Verständigungsmit­tel, man verständigt sich mit ihm nicht über den Sinn der Dinge, aber über ihren Wert. Es ist vielleicht kein gerechtes, aber ein handliches Maß, und zwar für sehr unterschiedliche Dinge: Roggen vom Schwarzen Meer, Trocken­fisch aus Selinunt oder auch die Erotik einer phönizischen Mietflötistin, alles läßt sich in gleicher Münze messen. Und so wie die Sprache Bewegung in die Gedanken der Menschen bringt, weil sie nämlich die Gedanken von ihrem biologischen Gefängnis, dem Ge­hirn, befreit, so löst das Geld den Tausch­wert von der Ware.

Wenn also alles seinen Preis hat, warum nicht auch die Teil­habe an der Macht? wird sich Solon gesagt haben. Das war in­sofern revolutionär, als bis dahin politische Macht allein durch Zugehörigkeit zu einer Adelsfami­lie, also letztlich durch einen biologischen Umstand: nämlich die Ge­burt erworben wurde. Solon ließ nun das Vermögen jeden Athe­ner Bürgers schätzen. Dann wies er die Bürger vier Vermö­gensklassen zu. Den vier Vermögensklassen entsprachen vier Stufen der Mitwirkung an der Politik.

Die Vermögensschätzungen sollten in regelmäßigen Abständen wieder­holt werden. Man konnte sich also hochverdienen, und man konnte abstürzen. Was in der Ritterwelt als Katastrophe gegolten hatte und nur durch blutige Gemetzel zustandekommen konnte, nämlich Bewe­gung in den Machtverhältnissen, wurde von Salon auf diese Weise zu einem Verfassungs-Prinzip erho­ben.

Wenn aber Solon, wie wir hörten, das Vermögen zum Maß des Zu­gangs zu den Regierungsämtern machte: Warum ließ sich das Volk da­rauf ein? Dasselbe Volk, das doch gerade durch die Habgier seiner Her­ren in so fürchterliche Not geraten war! Das trotz der Lastenabschütte­lung in seiner überwältigenden Mehrheit zur untersten Vermögensklasse gehörte und natürlich auch nicht über Nacht reich wurde, in großen Tei­len viel­leicht niemals reich werden würde! Hätte es nicht allen Grund gehabt, Solon als Verräter aus dem Lande zu jagen?

Es gab wirklich Gründe genug zur Unzufriedenheit. Wir dürfen uns vor­stellen, daß es Mühe kostete, diese Unzufriedenheit zu überwinden. Leider ist keine der Reden erhalten, die Solon damals hielt. Vielleicht ging eine von ihnen ungefähr so:

Sp. 1:
»Zu Unrecht, ihr Männer von Athen, ganz zu Unrecht mißtraut ihr mir. Seid ihr denn blind? Warum in der Götter Namen seht ihr nicht, wie sehr ich alles zu eurem Vorteil eingerichtet habe? Seid ihr taub? Habt ihr nicht gehört, was ich euch ge­sagt habe? Die Wohlhabenden werden da­rum wetteifern, in die oberste Vermögensklasse aufgenommen zu wer­den, und sie wer­den sich um die Regierungsämter streiten. Da jedes Amt nur auf ein Jahr vergeben wird, werden die reichen Männer un­ablässig in Kämpfe verwickelt sein. Ihr fragt: Was euch das angeht? Ich bleibe euch die Antwort nicht schuldig: Solange die Oberen sich ineinander verbei­ßen, werden sie keine Kraft finden, euch noch einmal das Knie auf die Kehle zu setzen.

Und noch eins: Warum ist euer Gedächtnis so kurz? Habt ihr das wich­tigste Gesetz vergessen, das ich euch gab? Wißt ihr nicht, daß dieses Gesetz jedem einzelnen von euch, gleich welcher Vermögensklasse er angehört, das Recht gibt, die Re­gierenden vor Gericht zu ziehen? Und habt ihr vergessen, wo die Klagen verhandelt werden? Hier am Markt, mitten in der Stadt stehen die langen Bänke, auf denen die Richter Platz nehmen und in aller Öffentlichkeit ihre Entscheidung fällen. Und auch diese letzte Frage will ich euch beantworten, näm­lich wer die Richter sind. Denn darin gebe ich euch recht: Das beste Gesetz ist den Griffel nicht wert, mit dem es ge­schrieben ist, wenn die Richter schlecht sind. Also wer wird hier zu Gericht sitzen und sein Urteil fällen über Arm und Reich, über Groß und Klein, über Regierende und Regierte? Ich will es euch sagen und merkt es euch gut! Ihr selber seid es! Die Männer von Athen, das Volk, ihr, die ihr der untersten Vermögensklasse angehört, ihr werdet zu Gericht sitzen. Regieren werdet ihr nicht, aber wenn die Regieren­den das Gesetz verletzen, dann könnt ihr sie zur Rechenschaft ziehen. Beruhigt euch also, Männer von Athen, gebraucht eu­ren Ver­stand und eure Stimme, nicht eure Knüppel!«

 

Sp. 1:
Dreizehntes Kapitel: Kratzen verboten

Sp. 2:
Nicht nur Wirtschaft und politische Verfassung hat Solon re­formiert, seine Gesetze gaben auch zahlreiche Einzelweisun­gen, die Privatleben und politische Einstellung des Bürgers in günstige Bahnen lenken sollten.

Der Historiker Plutarch hat in seiner Biographie Solons eine Reihe der Gesetze überliefert; er gibt zwar leider nicht den Wortlaut der einzel­nen Vorschriften, aber er paraphrasiert ihren Inhalt ebenso ausführlich wie er ihn unverdrossen kom­mentiert. Nicht immer ist die Paraphrase vom Kommentar genau zu unterscheiden – aber was solls. Plutarch war der letzte Geschichtsschreiber, der, im zweiten Jahrhundert nach Chri­stus, noch selbst Reste vom Holz des Gesetzes in Hän­den hielt. Ihm zuzuhö­ren lohnt sich schon deshalb, weil es uns einen interessanten Ein­blick in das Alltagsleben vor zweieinhalbtausend Jahren gibt. Hören wir Plutarch.

Sp. 3:
»Unter den … Gesetzen Salons ist das eigentümlichste und überra­schendste dasjenige, welches den mit Entziehung des Bürgerrechts be­straft, der sich im Falle des Bürgerk­riegs neutral verhält und sich auf keine der beiden Seiten schlägt. Die Absicht dabei ist wohl, daß niemand sich der Allgemeinheit gegenüber gleichgültig und unempfindlich ver­halten soll …«

Sp. 2:
Das heute so genannte Phänomen der Schweigespirale, also die Nei­gung vieler Bürger, in politischen Dingen zu schweigen, um hinterher sagen zu können, man sei immer schon auf der richtigen Seite gewesen – das scheint es auch damals gegeben zu haben.

Sp. 3:
»Absonderlich und lächerlich scheint das folgende Gesetz zu sein: Wenn eine erbberechtigte Tochter heiratet und es stellt sich heraus, daß der mit ihr nach dem Gesetz verbun­dene Gatte zeugungsunfähig ist, dann hat sie das Recht, sich von einem nahen Verwandten des unfruchtba­ren Mannes beschla­fen zu lassen. Einige finden dieses Gesetz gut und sinnvoll, vor allem gegenüber solchen Männern, die zum Ge­schlechtsver­kehr unfähig sind, des Geldes wegen aber Erbtöchter heiraten … Wenn solche Männer nämlich erkennen, daß sich ihre Frau mit wem sie will verbinden darf, dann werden sie die Ehe entweder aufgeben oder nur mit Schimpf und Schande auf­rechterhalten; im einen wie im andern Falle werden sie für ihre Habgier büßen … Demselben Zweck dient der Brauch, daß die Braut mit dem Bräutigam eingeschlossen wird, nachdem sie eine Quitte verzehrt hat, und daß derjenige, der die Erbin bekommt, ihr jedenfalls drei Mal monatlich beiwohnen muß. Denn wenn auch keine Kinder geboren werden, so ist das doch eine Ehre und eine Aufmerk­samkeit, die der Mann einer sitt­samen Frau erweist … Bei den sonstigen Heiraten verbot Solon die Mitgiften und verordnete, daß die Braut nur drei Ge­wänder und Hausgerät von geringem Wert, sonst nichts, mit­bringen durfte. Denn er wollte, daß die Ehe nicht eine Ge­schäfts- und Kaufangelegenheit sein, sondern daß die Verein­igung von Mann und Frau zum Zweck der Kinderzeugung in Liebe und Zärtlich­keit geschehen sollte … Und wenn einer in der Schlafkammer einer rei­chen Alten einen jungen Mann ausfindig macht, der da wie ein Stein­huhn gemästet wird, so sollte er ihn fort und zu einem jungen Mädchen bringen, das einen Mann braucht …«

Sp. 2:
Wann hat je ein Gesetzgeber solche Mühe darauf gewendet, die Ehe zu einer Lust zu machen, zu einer »Freude in Flanke und Bauch«?

Sp. 3:
»Gelobt wird ferner das Gesetz Solons, das einem Toten Böses nachzusa­gen verbietet. Denn fromm ist es, die Dahingeschie­denen als heilig zu betrachten…Lebenden übel nach­zureden war nicht überall, sondern nur in der Nähe von Heiligtümern, vor Gerichten und Behörden und bei Sportveranstaltungen verboten … Denn es gehört sich nicht und ist ungezogen, seinen Zorn nirgendwo zu bezähmen; ihn allerdings über­all in der Gewalt zu haben, ist schwer und für manche sogar unmöglich, und das Gesetz muß mit Rücksicht auf das Mögliche abgefaßt werden, wenn es wenige mit Nutzen und nicht alle ohne Nutzen bestrafen soll.«

Sp. 2:
Wann hat je ein Gesetzgeber soviel Verständnis für die Klatsch- und Spottlust der Menschen gehabt?

Sp. 3:
»Er gab ferner für die Ausfahrten der Frauen, für Trauern und für Festfei­ern ein Gesetz, das Unordnung und Zuchtlosig­keit einschränken sollte. Er verordnete, daß eine Frau, wenn sie eine Reise machte, nicht mehr als drei Kleider bei sich haben, nicht mehr Essen und Trinken als für einen Obolos und keinen über eine Elle großen Korb mitnehmen, auch nicht bei Nacht reisen sollte, außer im Wagen mit vorgetragener Fakkel. Bei der Trauerfeier schaffte er das Zerkratzen der Ge­sichter, das Singen von Klageliedern und den Brauch ab, auch bei Begräbnissen ande­rer mitzuheulen. Er erlaubte nicht, einen Ochsen als Totenopfer zu bringen, mehr als drei Kleider ins Grab mitzugeben und fremde Grabmä­ler zu besuchen außer bei der Bestattungsfeier.«

Sp. 2:
Man kann eben alles übertreiben – auch die Trauerarbeit.

Sp. 3:
»… und da er sah, daß der karge Boden mit Not denen, die ihn bebau­ten, Unterhalt bot, aber nicht imstande war, eine müßige arbeitslose Menge zu ernähren, so gab er dem Handwerk Ehre und ordnete an, daß der Rat auf dem Areopag die Auf­sicht darüber zu führen hatte, woher jeder seinen Unterhalt beziehe, und die Müßiggänger bestrafte …«

Sp. 2:
Es klingt nach Sozialabbau – aber so ganz dumm ist es vielleicht doch nicht. 

Sp. 3:
»Im höchsten Maße widersinnig ist, wie es scheint, Solons Gesetzge­bung über die Frauen. Der Ehemann, der seine Frau mit einem anderen Mann auf frischer Tat ertappte, durfte den Ehebrecher töten, Wer aber eine unverheiratete Frau entführ­te und vergewaltigte, erhielt eine Geld­strafe von 100 Drach­men. Wenn jemand eine Frau einem anderen Mann zu­führte, be­trug die Strafe zwanzig Drachmen, ausgenommen diejenige, die sich öffentlich verkaufen, womit er die Dirnen meint, denn die gehen ja ganz offen zu dem, der sie bezahlt …«

Sp. 2:
Dieses Gesetz brachte Salon den Ruf ein, der Erfinder der Freudenhäu­ser zu sein. Aber das ist denn doch wohl zuviel Ehre.

Sp. 3:
»Dem Sieger bei den isthmischen Spielen setzte er einen Preis von 100 Drachmen aus, dein Olympiasieger 500 Drachmen.«

Sp. 2:
Reine Amateure waren die Sportler also auch damals nicht.

Sp. 3:
»Wer einen Wolf ablieferte, sollte fünf Drachmen bekommen, für ei­nen Jungwolf eine Drachme; fünf Drachmen entsprachen dem Preis eines Ochsen, eine Drachme dem eines Schafes. Die Bekämpfung der Wölfe war bei den Athenern alte Sitte … Sodann bestimmte er sehr sachverstän­dig die Abmessungen der Pflanzungen, und zwar verordnete er, daß man beim Setzen von anderen Pflanzen auf seinem Acker einen Abstand von fünf Fuß, bei Feigen- und Ölbäumen neun Fuß Abstand halten sollte. … Bienenstöcke durfte man nur in dreihundert Fuß Entfernung von solchen aufstellen, die von einem andern schon vorher angesetzt waren.«

»Auch ein Gesetz. über Schäden durch Vierfüßler gab er, worin verord­net ist, daß ein Hund, der jemanden gebissen hat, an ei­nem drei Ellen langen Halseisen auszuliefern ist. Der Gedan­ke ist gut zur Förde­rung der Sicherheit.«

Sp. 2:
Manche sagen, Solon habe den Gesetzen eine Geltungsdauer von einhun­dert Jahren gegeben. Vielleicht war es so. Es ist ja beliebt, Jahrhun­dertverträge zu schließen und Tausendjährige Reiche zu begrün­den. Wir möchten aber doch lieber dem Historiker Herodot Glauben schenken; er sagt, die Athener hätten Solon ihr Ehrenwort geben müssen, zehn Jahre lang die Gesetze einzuhalten. Solon kannte seine Mitbürger zu Genüge; es kann ihm nicht entgangen sein, daß sie ihre Ehrenworte, je mehr und je Grö­ßeres sie damit beschworen, zwar umso bereitwilliger spra­chen, aber auch umso leichter brachen. Und Solon kannte sich selbst: Er wußte, wie begrenzt der Bereich war, den er über­sehen konnte Auch die klügste Absicht gleicht, wie der eng­lische Philosoph John Langshaw Austin schrieb, einer Berg­mannslampe: Sie beleuchtet von dem kleinen Bereich des Sichtbaren bestenfalls den winzigen Teil des Stollens, der in Blickrichtung liegt, und von dem Riesenreich des Unsicht­baren: nichts. Solon hat die Summe seiner Erfahrungen als Gesetzgeber in einer Elegie gezogen. Davon sind einige Zeilen erhalten.

Sp. 3:
»Ich gab dem Volk, was dem Volke gebührt, von seiner Würde
nahm ich ihm nichts und nichts hab ich hinzugefügt.
Den Mächtigen aber, den Geldmännern habe ich unanständigen Reich­tum
nicht länger erlaubt. Alles war wohlüberlegt.«

Sp. 2:

Solon hatte seine Arbeit getan, und es war eine große Ar­beit; das empfan­den auch seine Mitbürger so. Sie feierten ein Fest, das Lastenabschüt­telungs-Fest. Wie es dabei zu­ging, ist nicht überliefert. Aber wir dürfen es uns ausma­len, und zwar anhand einiger Nachrichten, die von den Altertumsforschern aus der Literatur des sechsten und fünften Jahrhunderts über das sogenannte Blütenfest zusam­mengetragen wurden.

 

Sp. 1:
Vierzehntes Kapitel: Thyradse keres – Hinaus mit Euch Ihr bösen Geis­ter!

Sp. 2:
Ende Februar eines jeden Jahres feierte Athen seit unvor­denklichen das Blütenfest. Es dauerte drei Tage. In der Nacht zum ersten Festtag zog eine wein- und blumenselige Prozession durch die Stadt. Frauen, Kinder, Sklaven – das Herz Athens sang und sprang und pfiff durch die Gassen. Den Höhepunkt des Festgefolges bildete, wie bei unseren Rosen­montagszü­gen, ein großer geschmücker Wagen. Er hatte die Form eines Schiffsbauchs. Um ihn herum tanzten junge Männer, die sich als prächtig aufgerichtete Penisse maskiert hatten. Oben auf dem Karren fuhr der Herr und Gott Dionysos, ein völlig enthemmter Prinz Karneval. Bei ihm die basilinna. Das war die Ehefrau des sogenannten basileus, der in der Stadt eine Funktion innehatte, die man, in heutigen Begriffen, als eine Mischung zwischen Erzbischof und Ehrenbürgermeister be­zeichnen könnte. Die basilinna also hatte die freudige Pflicht, alle Wünsche dieses liebestollen Himmelsmannes zu erfüllen. Wenn die Frau Bürgermeister und der Gott ihre hei­lige Arbeit hinter sich gebracht hatten, wurden die Weinfäs­ser für das Volk geöffnet.

Sp. 3:
Am Abend des zweiten Tages schlug die Stunde des basileus. Er war Schiedsrichter beim Kannen-Kampf. Die Teilnehmer der Endrunde versammelten sich auf dem Marktplatz. Sie nahmen auf Hockern Platz. Jeder hatte einen kleinen Tisch vor sich. Darauf ruhten die Sportgeräte. Das waren: eine Kanne, ein Becher und ein Krug. Wenn der basileus das Startzeichen gab, mußten die Zuschauer stille schweigen wie das Publi­kum in Wimbledon, wenn die Meister zum Match servieren. Die Arme der Kämpfer schnellten in diesem Augenblick äußerster Span­nung nach vorn, ihre sehnigen Hände packten die Kannen bei den Henkeln und – sie schenkten sich ein. Und ein großes Plät­schern, ein Spritzen, ein Schlür­fen und Schmatzen, ein Schnalzen, Schlucken, Gurren, Gurgeln und Glucksen hob an: Das Wettsaufen war eröffnet. Dreieinviertel Liter Wein faßte jede Kanne und was für ein Wein das war! Das Feuer der un­teren Welt brannte in diesem Tropfen. Drei Liter unvermisch­ten Weins hatten soviel Alkohol wie eine Flaschen Brandy heute. Wer also seine Kanne leerte und auch den letzten sü­ßen Tropfen aus dem Becher leckte – und konnte dann noch stehn: der hatte sich den Sieg sauber ersoffen; und die Efeukränze und den Honigkuchen und die Hochrufe des ebenso sachkundigen wie trunkenen Publikums hätte der Sieger noch unbeschwer­ter genießen können, hätte er nicht aus dem eksta­tischen Flötenspiel der Stadtpfeifer jenen Hauch von Ver­zweiflung und Todesentset­zen herausgehört, und im Flackern der Fackeln jenen Schat­ten des entsetztlichsten Abgrunds er­ahnt, den jeder tapfere Trinker kennt und fürchtet und dem er niemals entrinnt.

Wenn nämlich die Menschen nicht nüchtern und aufmerksam sind, son­dern in Lust und Trunkenheit zerstreut, dann be­freien sich aus den Schattenhöhlen und Spalten der Erde die Rache- und Reuegeister und die Dämonen. Und sie ergreifen, angeführt von Hermes Chthonios, Be­sitz von jeder Seele, von jedem Zimmer und Haus, von jedem Hof und jeder Straße, ja von der ganzen Stadt, und sie wüten stumm und tückisch.

Sp. 2:
Die Beschwichtigung der Erdgeister überließ man Frauen und Kin­dern. Die Frauen kochten eine Mahlzeit aus Schwarzwur­zeln, Knob­lauch, Zwiebeln, Pilzen, Kartoffeln und Dinkel und stellten die dampfen­den Töpfe am Morgen des dritten Festta­ges ins Freie. Sie erwarteten, die Erdgeister würden Ge­schmack an den eingekochten Erdfrüchten finden und, wie die irdischen Männer nach einem guten Essen aus Müdigkeit milde zu werden pflegen, so würden auch die Dämonen ihre düsteren Absichten vergessen. Die Kinder der Stadt taten ein übriges: Sie legten parfümierte Kleider an und versammelten sich, un­ter Anleitung der basi­linna, zu einem kultischen Schaukeln, um die satten Dämonen einzulul­len Am Abend, wenn auch die Männer wieder zu Kräften und neuem Mut gekommen waren, zog noch einmal die ganze Stadt los und scheuchte die Totengei­ster durch die Straßen, und man rief und schrie sich die Seele aus dem Hals: Das Fest ist aus! Hinaus mit euch, ihr bösen Geister! – thyradse keres uket anthestäria!

 

Sp. 1:
Fünfzehntes Kapitel: Solon ist kein scharfer Denker

Sp. 2:
Solon war für ein Jahr gewählt worden, und er hatte sich in diesem ei­nen Jahr bei vielen unbeliebt, bei allen aber unentbehrlich gemacht. Man trug ihm die dauerhafte Allein­herrschaft an. Er antwortete, das verstoße gegen die eben in Kraft gesetzte demokratische Verfassung. Dann bat man ihn, wenigstens als Berater zur Verfügung zu stehen und Auskunft zu geben, wenn etwa Dunkelheiten des Gesetzeswerks zu Tage träten und Auslegungsstreit entstünde. Auch dies lehnte Solon ab. Statt sich vom politischen Alltagskampf zerreißen zu lassen, zog er es vor, zu verreisen. Einstweilen, so soll er seine Mitbürger beschieden haben, müßten sie ohne ihn auskommen, er wolle ausspannen und die während seiner Regie­rungsarbeit stockenden Handelsgeschäfte wieder in einträgliche Bewegung bringen. Bei der Rückkunft werde er dann feststellen, ob sie seine Lektion gelernt hätten.

Wenn Solon geglaubt haben sollte, das Volk werde seine Bescheiden­heit zu würdigen wissen, so hatte er sich getäuscht. Das sonderbare Koordi­natensystem, in das die Bevölkerung die Eigenschaften ihrer leiten­den Persönlichkeiten einzutragen pflegt, und demzufolge es bei Politi­kern nur einen Fehler gibt, der noch schlimmer ist als unverschäm­tes und rück­sichtsloses Machtstreben: nämlich kein unverschämtes und rücksichtsloses Machtstreben, dieses offenbar zeitlose Mu­ster, in dem Unbestechlichkeit als Dummheit, Bescheidenheit als Mangel an Durchset­zungskraft und Ehrlichkeit bestenfalls als naiver Idealismus er­scheint, dieses Muster also scheinen die Athener auch auf ihren guten Solon angewandt zu haben. Solon selbst schrieb ein Gedicht, in dem er den Standpunkt eines von Solon enttäuschten Atheners auf die Spitze treibt:

Sp. 3:
»Solon ist kein scharfer Denker und kein Mann von klugem Rat.
Gutes wollt’ ein Gott ihm geben – aber er, er nahm es nicht!
Schon ist voll das Netz, jedoch der Blinde traut sich nicht, den Fang
an Land zu ziehn. Was ihm fehlt ist Mut genauso wie Verstand.
Wäre ich an seiner Stelle und Athen gehörte mir
Nur für einen einz’gen Tag! Ach für diese Seligkeit gäb
ich Haus und Hof, ich ließe mich sogar zu Tode prügeln!«

Sp. 2:
Solon ließ sich aber nicht umstimmen. Er verreiste. Unter anderem in das Gebiet, das man heute die türkische Riviera nennt – damals hieß es Kleinasien.

 

Sp. 1:
Sechszehntes Kapitel: Krösus

Sp. 2:
In der lydischen Stadt Sardeis in Kleinasien herrschte zu Beginn des sechsten Jahrhunderts vor Christus der reichste Mann der damals bekann­ten Welt; er hieß Kroisos, zu Deutsch: Krösus. Ob er sich im Schein des Goldes gesonnt hat wie On­kel Dagobert in Dollars badet, davon weiß weder die Legende noch die ernsthafte Geschichtsschreibung etwas, aber in den Kammern seines Palasts funkelten zweifellos die edels­ten Me­talle, und in dem weiten Tal, das seinen Palast umgab, duft­eten Milch und Honig wie in Kanaa, und sogar das Wasser der beiden Gebirgsbä­che, die friedlich durch seine Stadt murmelten, glitzerte golden …

In diese prachtvolle asiatische Stadt kam Solon. Und Krösus begann das Gespräch so:

Sp. 3:
»›Gastfreund aus Athen, zu uns ist über dich vielerlei Kunde gekom­men wegen deiner Weisheit und deiner Fahrten … jetzt nun ist das Verlan­gen über mich gekommen, zu fragen, ob du schon einen gesehen hast, der der Allerglücklichste war.‹ … Solon erwiderte …: ›Tellos aus Athen … Denn erstens be­saß Tellos zu einer Zeit, da es dem Staate gut ging, schöne und wackere Söhne, und er sah, wie ihnen allen Kinder gebo­ren wurden und am Leben blieben …‹«

Sp. 1:
Herodot, Forschungen

Sp. 2:
Natürlich war Krösus enttäuscht. Er dachte ja, niemand anders als er selbst könne kraft seines Reichtums der glücklichste Mensch sein. Aber trotz mehrmaliger Nachfrage bequemte sich Solon nicht dazu, seinen so überaus reichen Gastgeber als einen glücklichen Menschen zu bezeich­nen. Krösus wurde unruhig und fragte:

Sp. 3:
»›Lieber Gastfreund aus Athen, aber mein Glück ist von dir so reinweg als ein Nichts gerechnet, daß du nicht einmal Pri­vatleuten mich gleich erachtest?‹« Solon gab zur Antwort:»›Lieber Kroisos, mich, der ich weiß, daß das Göttliche in seiner Gesamtheit neidisch und Unruhe schaffend ist, be­fragst du um menschliche Dinge. In der langen Zeit eines Menschenle­bens geschieht es, daß man vieles sehen muß, was man nicht möchte, und auch vieles davon erleidet. Denn bis zu 70 Jahren setze ich die Grenze des Lebens für einen Menschen … Von allen diesen Tagen dieser 70 Jahre, es sind 26.250, bringt jedesmal der nächste kein Ding, das dem vor­angegangenen völlig gleich wäre. So also ist, Kroisos, das Glück ganz Zufall … Und daß nun ein Mensch allein dies alles …‹

Sp. 2:
das ganze Glück, nämlich Reichtum, Gesundheit, Schönheit, Freude an seinen Kindern, ein gutes Ende und eine gute Nach­rede

Sp. 3:
›allein in sich zusammenfasse, ist unmöglich, so wie kein Land allein im­stande ist, alles sich selbst zu bieten, sondern es hat das eine und es bedarf des andern. Welches aber das meiste besitzt, das ist das beste. So aber ist auch das menschliche Einzelwesen, allein für sich genommen, in sich nicht hinreichend, das eine hat es, und eines anderen bedarf es. Wer aber von diesen Dingen das meiste ein Leben lang hat und dann noch auf glückliche Weise sein Leben be­schließt, der ist in meinen Augen, König, würdig, daß man ihn glücklich nennt. Sehen aber muß man bei jedem Dinge auf das Ende, wie es ablaufen wird. Denn vielen schon zeigte die Gottheit Glück und stürzte sie dann in die tiefste Tiefe …‹«

 

Sp. 1:
Siebzehntes Kapitel: Heimkehr

Sp. 2:
Als Solon von seiner langen Reise zurückkam, waren die Gra­ben­kämpfe der Parteien wieder aufgebrochen, und ein gutaussehender jun­ger Mann namens Peisistratos, mit dem So­lon anscheinend eine Zeitlang befreundet war, hatte sich an die Spitze der Unzufriedenen gestellt.

Eines Tages donnerte Peisistratos in seinem Maultier-Wagen in die Stadt; auf dem Marktplatz hielt er an. Die Maultiere waren schwer ver­letzt, und auch er selbst, Peisistratos, blutete. Ein Attentat, begangen von den Schergen der Rei­chen, so hieß es. Eine Stadtversammlung wurde einberufen. Eine Leibwache für Peisistratos! Das war die Forderung des Volkes. Solon sprach dagegen. Er konnte sich nicht durchset­zen. Peisistra­tos bekam fünfzig mit Keulen bewaffnete Männer zugebilligt; und kaum hatte sich diese Garde formiert, be­setzte sie die Akropolis. Ihr Anführer Peisistratos rief sich zum Alleinherrscher in Athen aus. Das blieb er für Jahrzehnte. Und dem Bestand seiner Tyrannei tat es keinen Abbruch, als man herausfand, daß er das Attentat nur vorge­täuscht und sich und seinen Maultieren die Wunden höchstper­sönlich beigebracht hatte.

Sp. 1:
Solon aber ging nach Hause und legte seine Waffen, die er als Athener Bürger in sei­nem Haus zu hüten hatte, auf die Straße, vor die Tür. Das hieß: Ich bin nicht auf der Seite der Macht. »Was ihm das Vertrauen gebe, daß Peisistratos ihm nichts anhaben werde?« soll jemand gefragt haben. »Mein Alter,« antwortete Solon.

War er gescheitert? War alles umsonst? Nicht ganz. Peisistratos erwies sich als milder Tyrann. Die meisten der solonischen Gesetze blieben in Kraft. Sie wurden die Grundlage des römischen Zwölftafelgesetzes, und das römische Recht lebt in den Gesetzbüchern und Kommentaren des kontinentaleuropäischen und den Urteilen der angelsächsischen Richter bis heute fort. Und dann sind da noch die Ge­dichte. Und in ihrem Nach­klang: der Traum von einem goldenen Zeitalter, von Glück und Gerechtig­keit.

Sp. 3:
»Es gibt ein Alter, in dem man lehrt, was man weiß; doch da­nach kommt ein anderes, in dem man lehrt, was man nicht weiß: das nennt man Forschen. Es kommt jetzt vielleicht das Alter einer anderen Erfah­rung: der des Verlernens, die nicht vorhersehbare Umarbeitung wirken zu lassen, durch die das Vergessen die Ablagerung des Wissens, der Kulturen, der Glaubensüberzeu­gungen, durch die man hindurchgegangen ist, prägt. Diese Er­fahrung hat, glaube ich, einen berühmten und altmodischen Namen, den ich hier ohne Komplexe am Kreu­zungspunkt seiner Etymologie aufzugreifen wage: Sapientia: keine Macht, ein wenig Wissen, ein wenig Weisheit und soviel Würze wie mög­lich.«

Spr. 2:
Roland Barthes, Leçon/Lektion, Antrittsvorlesung im Collège de France

Sp. 1:
Solon war allem Anscheine nach ein unwürdiger Greis. Ob es uns paßt oder nicht, die Legende will es so: Er trank, zog mit Komödianten umher und machte sich blaue Stunden mit schönen Damen. Selbst im Tode, so ordnete er an und so ge­schah es auch wohl, sollte alles einfach sein und ganz leicht: Seine Asche wurde in den Wind gestreut.

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