1890

Kleine Reden und Miszellen

Synergien zwischen Literatur und Politik


Christoph Schmitz-Scholemann

 

Sehr verehrte Damen, sehr geehrte Herren, liebe Freundinnen und Freunde des guten und schönen Worts,

gestatten Sie mir, dass ich angesichts des engen Zeitrahmens auf alle Vorbemerkungen verzichte und stattdessen sofort zur Sache komme. Ich spreche über Synergien zwischen Literatur und Politik.

I.
Was sind Synergien?

Ich beginne mit einer Begriffsklärung. Das Wort »Synergien« ist etwas in Verruf geraten, weil es aufgrund seines Wohlklangs gern von Unternehmenssanierern und Verwaltungsreformierern verwendet wird, um dahinter Personalabbau und Arbeitsverdichtung zu verstecken. Ich verstehe das Wort nicht in diesem, sondern in seinem eigentlichen Wortsinn. Unter Synergien verstehe ich Kräfte, die durch das Zusammenwirken mehrerer Elemente gewonnen werden, genauer genommen: die nur durch das Zusammenwirken mehrerer Elemente frei werden. Die Idee ist, dass es sich bei Synergien um zusätzliche Kräfte handelt, die anders und größer sind als die Einzelkräfte der zusammenwirkenden Elemente. Synergien aus dem Zusammenwirken von Literatur und Politik müssen also Energien sein, die weder die Literatur für sich allein noch die Politik für sich allein haben und die beiden, vielleicht sogar der Allgemeinheit, einen zusätzlichen Nutzen bringen.

Um etwas über die so verstandenen Synergien sagen zu können, muss man also ungefähr wissen, welcher Art die Einzelelemente sind, die zusammenwirken sollen, in welcher Beziehung sie zueinander stehen, wie sie sich unterscheiden und  welche Gemeinsamkeiten sie haben. Mit diesen Aspekten werde ich mich deshalb zunächst beschäftigen. Danach spreche ich darüber, welchen Nutzen Politik und Literatur aus einem Zusammenwirken ziehen können. Am Schluss werde ich 7 Vorschläge  für gemeinsames Tun skizzieren. 

II.
Notwendige Distanz zwischen Staatsmacht und Literatur

Noch eines möchte ich gleich am Anfang klarstellen. Die Synergie, von der ich spreche, kann nur zustande kommen, wenn zwischen der Politik und der Literatur eine kritische Distanz gewahrt bleibt. Eine gewisse Spannung zwischen Literatur und Politik ist Voraussetzung dafür, dass beide voneinander profitieren können. Staatlich gelenkte Dichtung ist das letzte was wir brauchen.

III.
Politik und Literatur – unterschiedliche Sphären

In Deutschland liegen die politische Sphäre und die von den Literaten bestellten Gärtlein traditionell weit auseinander. Die Gefahr, in einer Parteiversammlung einem Poeten zu begegnen, ist ziemlich gering. Umgekehrt bin ich bisher noch bei kaum einer literarischen Veranstaltung einem Politiker begegnet, es sei denn, er wäre zu einem Grußwort eigens eingeladen gewesen. Öffentlich über Leseerlebnisse zu sprechen, gehörte früher zum guten Ton, scheint aber aus der Mode zu sein. Wenn Sie im Internet Bilder von Angela Merkel mit Schriftstellern suchen, finden Sie nicht viel, während an Selfies mit Lukas Podolski, Bastian Schweinsteiger und anderen deutschen Helden des Sports kein Mangel ist.

IV.
Synergien – ein Blick über die Grenzen und in die Vergangenheit

Die Trennung der politischen von der literarischen Sphäre ist keinesfalls zwangsläufig.  Sie war auch nicht immer und ist auch nicht überall vorhanden. Ich bin deshalb sicher, dass sich eine wechselseitige Förderung von Politik und Literatur zu gemeinsamem Nutzen bewerkstelligen lässt. Drei Beispiele will ich nennen für den reichen Segen, den das Zusammenwirken von Politik und Literatur bringen kann. Solon von Athen lebte im 6. Jahrhundert vor Christus. Wir kennen seine politische Bedeutung aus dem Buch von Friedrich Engels über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats: Solon hat nämlich den damals üblichen Verkauf von verarmten Schuldnern und ihrer Familien in die Sklaverei per Gesetz abgeschafft. Weniger bekannt ist, dass Solon eigentlich Lyriker war. Er schrieb deshalb die Gesetze zur Abschaffung der Schuldknechtschaft in eindringlich rhythmisierten Versen, was dazu führte, dass man sie sich schnell einprägen und sie leicht befolgen konnte. Ich will daraus nicht die Forderung ableiten, zB das derzeitig in Thüringen virulente Gesetz über die Gebietsreform in Blankversen abzufassen. Aber dass ein durch Literatur-Lektüre geschultes Sprachempfinden für die Abfassung von Gesetzestexten sinnvoll sein kann, davon bin ich überzeugt. Besonders erfolgreich war übrigens das Zusammenwirken von Literatur und Politik am Weimarer Hof von 1775 bis 1825 – ein halbes Jahrhundert lang war der erste Berater des Fürsten ein Dichter. Von dieser Konstellation zehrt Weimar, wenn nicht Thüringen bis heute. Und das letzte Beispiel: Ist irgendjemandem ein Staatsmann bekannt, der sein Land sympathischer vertreten hätte als der Schriftsteller Vaclav Havel, der von 1993 bis 2003 tschechischer Staatspräsident war? Nie in den letzten 100 Jahren stand Tschechien in höherem Ansehen als in der Zeit von Vaclav Havels Präsidentschaft. 

V.
Misstrauen zwischen Politik und Literatur

Ich fürchte, bei dem Stichwort »Synergien zwischen Politik und Literatur« werden sowohl auf Seiten der Literatur als auch der Politik allergische Reaktionen auftreten.

Es gibt bei Schriftstellern und überhaupt bei musisch veranlagten Menschen eine Tendenz, sich von der Politik fernzuhalten, ihr jedenfalls mit Misstrauen zu begegnen. Viele Künstler pflegen ein ziemlich heldenhaftes Selbstbild, dem zufolge sie in besonderer Nähe zu ewigen Werten und Wahrheiten leben und wirken, während man den Politikern ziemlich viel Übles zutraut, Opportunismus, Postengeschacher, Nepotismus, kurz: Ahnungslosigkeit in der Sache und Hemmungslosigkeit im Füllen der eigenen Taschen.

Umgekehrt ist die literarische Welt auch nicht eben das Hätschelkind der Politik. Das politische Geschäft, soweit wir es als Bürger beobachten können, ist sehr stark durch Öffentlichkeit geprägt. Vieles geschieht so, wie es geschieht, mit Rücksicht auf die Wirkung, die es in der öffentlichen Meinung hinterlässt, hinterlassen soll oder vermutlich hinterlassen wird. Das führt zu einem steigenden Einfluss von Journalisten, Meinungsforschern, Politologen, Börsen-Analysten, PR-Beratern, Werbefachleuten. Die Frage, was (vermutlich) bei vielen Leuten oder bei Leuten mit viel Einfluss gut ankommt, ist mindestens so wichtig wie diejenige, worauf es in der Sache ankommt. Die öffentliche Meinung ist vom Gesetz der großen Zahl geprägt. Wer sie gewinnen will, muss  »die Vielen« überzeugen, auch wenn »die Vielen« unter Umständen nicht fachkundig sind. Dieser Umstand macht es für die Literatur sehr schwer, im Nutzenkalkül eines Politikers auch nur am Rande vorzukommen. Es gibt einfach nicht so viele Dichterinnen und Dichter. Literatur ist ein Minderheitenprogramm. Noch dazu ist ihre Wirtschaftskraft unbedeutend verglichen mit der von Banken und Industrie. Dichter füllen keine Hallen. Wahrscheinlich erreicht ein Landtagsabgeordneter mehr Menschen, wenn er die Jahresversammlung des Quo Vadis Square Dance Club Thüringen e.V. in Suhl eröffnet, als wenn er einer Lyriklesung auf der Burg Ranis beiwohnt.

VI.
Gemeinsamkeiten zwischen Politikern und Schriftstellern

Sprechen wir aber von dem, was Politikern und Schriftstellern gemeinsam ist. Die erste Gemeinsamkeit zwischen Schriftstellern und Politikern ist so offensichtlich, dass man so gut wie nie darüber spricht. Beide Betätigungen sind nämlich eigentlich gar keine richtigen Berufe. Tucholsky sagte, Schriftsteller ist kein Beruf, sondern eine Beschäftigung. Jedenfalls gibt es keinen staatlich vorgeschriebenen Ausbildungsgang. Jeder kann Bundeskanzler werden, jeder Romancier, er muss keine Schule besucht haben, schon gar nicht muss er eine Prüfung bestehen, er muss nicht Meister sein und nicht Doktor. Willy Brandt war Schiffsmakler von Ausbildung, Thomas Mann hatte kein Abitur – um nur mal zwei Nobelpreisträger zu nennen.

Die zweite Gemeinsamkeit ist, dass die Bevölkerung sowohl Politikern als auch Schriftstellern ein gewisses Grundmisstrauen entgegenbringt. Dieses Grundmisstrauen kommt sehr hübsch in einer Anekdote zum Ausdruck, die über den österreichischen Schriftsteller Alfred Polgar erzählt wurde. Als dessen Frau eine neue Haushaltshilfe einstellte, schärfte sie ihr ein, niemals an Vormittag dessen Zimmer zu betreten, weil Polgar vormittags arbeite. Schon am ersten Tag verstieß die Haushilfe gegen das Verbot und drang, mit dem Staubwedel bewaffnet, in Polgars Arbeitszimmer  ein. Als sie von Polgars Frau zurechtgewiesen wurde, verteidigte sie sich mit den Worten: »Er hat ja überhaupt nicht gearbeitet, er saß nur am Schreibtisch.« Der Mensch vertraut in erster Linie dem, was er sieht. Bei der Arbeit von Politikern und Schriftstellern ist nicht viel zu sehen. Diese Leute arbeiten im Sitzen, lesen, schreiben, reden – aber das ist nicht das, was das Volk herkömmlicherweise »etwas tun« nennt. Sie pflügen nicht, sie ackern nicht, sie schrauben nicht, sie hämmern nicht, sie sitzen einfach nur rum und quatschen.

Dritte Gemeinsamkeit: Die Qualität der Arbeitsergebnisse ist schwer zu beurteilen. Ob ein Auto tut, was es soll, ist messbar, bei Gedichten und Gesetzen ist es das nicht oder erst nach langer Zeit.

Und schließlich: Beide arbeiten, wenn man es poetisch ausdrücken will, am Firmament des Ideen-Himmels, der sich über das Treiben der Menschheit wölbt und im Wesentlichen nur mit Worten beschreibbar ist.  Beider Handwerkszeug ist die Sprache. Schriftsteller und Politiker haben vermutlich nicht dasselbe Interesse an der Sprache. Die einen, die Schriftsteller nämlich, stehen zur Sprache wohl eher im Verhältnis eines Grundlagenforschers zu seinem Gegenstand, während für die Politiker mehr die Fragen der Anwendung im Vordergrund stehen. Das eine ist ein poetischer, das andere ein rhetorischer Zugang, aber in beiden Fällen geht es um Sprache.

VII.
Wie kann die Literatur der Politik nutzen?

Ich spreche hier von Literatur nicht in dem weiten Sinne, in dem alles Literatur ist, was in Buchstaben geschrieben ist oder doch alle Wörter, die auf Papier gedruckt  zwischen Buchdeckeln sind, ich spreche also nicht von soziologischer, juristischer oder naturwissenschaftlicher Fachliteratur, auch nicht von Werbetexten und Presseerzeugnissen. Ich spreche nur von dem, was man früher die »schöne« Literatur genannt hat, Romane, Erzählungen, Essays, Theaterstücke, Gedichte, Lieder, Chansons. Die Frage ist also, welchen Nutzen solche Phantasiegebilde einem Politiker bringen können.

Was mir als erstes einfällt, ist das, was für die meisten Menschen der Hauptgrund ist, Literatur zu lesen: Sie wollen Unterhaltung, Zeitvertreib, Vergnügen. Ich denke, das ist für so hin- und hergezerrte, dauergestresste Menschen wie Politiker besonders wichtig: Ein kleines Gedicht jeden Morgen – und ich sage Ihnen, Sie blühen mental auf. Zum Beispiel dieses kleine Gedicht schrieb Joachim Ringelnatz eigens zu dem Zweck, dass man es sich hinter den Spiegel klemmt:

An den Mann im Spiegel
Du bist ein krummer, dummer Hund!

Und hast es doch so gut gehabt,
Bist gar nicht reich und bist gesund,
Auch großenteils nicht unbegabt.
Du altes Schwein im Trüffelbeet,
Weißt du auch stets, wie gut’s dir geht?
Du, spring nicht über Schranken,
Die höher, als du selbst bist, sind.
Vergiß nie, täglich wie ein Kind
Für alles tief zu danken.

Insbesondere die letzten vier Zeilen, sind, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, sehr hilfreich, wenn man etwas zu tun hat, das in der Öffentlichkeit als wichtig angesehen wird und dabei die Bodenhaftung nicht verlieren will.

Hinzu kommt die Verbesserung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit. Wenn Sie Politiker sind und eine Rede vorbereiten wollen, blättern Sie ein wenig in Goethes Faust oder in Schillers Räubern oder im Hamlet von Shakespeare oder in einem Roman von Ingo Schulze und Sie werden feststellen, wie viel bunter, tiefsinniger und überzeugender Sie ein politisches Statement sprachlich gestalten können, wenn Sie Formulierungen aus der Literatur verwenden. Und Sie werden weiter bemerken, dass es sich dabei nicht nur um rhetorischen Schmuck handelt, nicht nur um sprachliche Girlanden, sondern dass Sie ihrem Gedanken mit einer überraschenden Wendung auch eine schwer zu beschreibende zusätzliche Würze verleihen.

Außerdem kommt die öffentlich gewordene Belesenheit meist ziemlich gut an: Der Politiker gerät in den angenehmen Ruf, einer zu sein, der über den Tag hinaus denkt, über den Tellerrand schaut und wie die Ausdrücke sonst noch lauten mögen, kurz gesagt, Sie gelten als gebildet. Und das eigentliche Wunder ist, dass Sie diesen Ruf, vorausgesetzt Sie haben die schönen Zitate nicht nur aus einer Zitatensammlung im Internet geklaut, ganz zu Recht erworben haben.

Und nun komme ich zu dem wichtigsten Punkt. Ich glaube nämlich, dass gerade die schöne Literatur eine unentbehrliche Erkenntnisquelle ist und als solche derzeit viel zu wenig genutzt wird. In politischen Zusammenhängen sind wir es mehr und mehr gewohnt, unser Weltbild und unser Selbstbild aus sogenannten Studien von Demoskopen,  Soziologen, Politologen und anderen Datenerhebern zu generieren. Wir definieren die Normalität unseres eigenen Lebens zunehmend anhand von statistischen Werten, von Diagrammen und Kurven.  Wir leben, ich glaube Herr Staatssekretär Krückels hat es so ausgedrückt, in zahlenbasierten Kurvenlandschaften. Meine Behauptung ist, dass wir damit uns selbst verfehlen. Denn in den Zahlen zeigt sich vielleicht das Leben der Gesellschaft, aber das Leben und die Gefühle der einzelnen Menschen verschwinden darin. Zahlen und Kurven sagen über das, was den Menschen ausmacht, genau so viel wie der Barcode-Zettel auf einer Pampelmuse über Geruch und Geschmack und alles das, was diese Frucht begehrenswert macht. Nämlich gar nichts. Und genau hier, wo es um das nicht in Statistiken Abbildbare geht, beginnt das Reich der Literatur. Sie zeigt uns das, was das Leben ausmacht, fleischliches und geistiges Leben, kleine und große Katastrophen, Trauer und Liebe, Lust und Tränen und Lachen, Ratlosigkeit und Rastlosigkeit, Widersprüche und Irrtümer, Hoffnungen, Schamgefühle und Ängste, die uns doch alle immer wieder heimsuchen, also Gefühle und Leidenschaften aller Art. Die Politikwissenschaftler wundern sich gegenwärtig über Vieles, zB darüber, warum sich Menschen bei ihren Wahlentscheidungen so irrational verhalten. Eine Dichterin wundert sich über das Irrationale überhaupt nicht. Schon ihre Berufswahl ist ja, rational gesehen, ein Unsinn. Ich glaube deshalb allen Ernstes, dass es für jeden, also auch und sogar gerade für Menschen, die weitreichende Entscheidungen zu treffen haben, zB Politiker, eine große Hilfe sein kann, sich mit Literatur zu befassen. Weil sie dem wirklichen Menschenleben auf den Grund geht und aufgrund von Intuition und Phantasie sogar zukünftige Entwicklungen vorausspüren kann. Lesen Sie, was Dostojewski vor 150 Jahren über das Verhältnis Russlands zum Westen Europas und zur Moderne geschrieben hat und Sie werden ganz neu über Putin nachdenken.

VIII.
Was kann die Literatur von Politikern lernen?

Die Frage, ob Schriftsteller von Politikern etwas lernen können, haben wir noch zu beantworten. Ich glaube die Frage ist zu bejahen.

Wer ernsthaft Literatur schaffen will, muss ein beträchtliches Maß an Eigensinn und Kompromisslosigkeit mitbringen. Kunst, auch literarische Kunst, setzt ein gewisses Maß an Rebellentum voraus.

Politiker dagegen sind Kompromissmenschen, und ich finde, so unentbehrlich der rebellische Eigensinn ist, Kompromissfähigkeit ist ebenfalls etwas ungeheuer Schönes und Wichtiges, das als literarisches Thema unterbelichtet ist. Dabei geht es um die für ein friedliches Zusammenleben unentbehrliche Tugend guter Nachbarschaft. Es  kommt nicht auf den Glanz der Originalität an, sondern auf Konsens und common sense, Übereinstimmung und Gemeinsinn. »tua res agitur paries cum proximus ardet«, sagte nun wieder ein großer römischer Dichter (Horaz) und das heißt auf Deutsch: Es geht um Dich, wenn Dein Nachbarhaus brennt. Gemeint ist die Einsicht, die aller Politik zu Grunde liegt, nämlich dass der Mensch nur in Gesellschaft überlebensfähig ist, er hat sich nicht selbst gemacht und kann sich nicht selbst begraben, auch der klügste und originellste und sogar der erfolgreichste Autor, der sich denken lässt, braucht die Feuerwehr, wenn es brennt, einen Zahnarzt, wenn er eine Wurzelentzündung hat, und vor allem verdankt er seine Originalität zu großen Teilen nicht sich selbst, sondern anderen Dichtern und vor allem der Sprache, die ja ein kollektives Gebilde ist, wie ein Teppich, an dem jeder, der spricht, mit webt. Der Poet hat also mehr noch als jeder andere Bürger eine Schuldigkeit gegenüber der Gemeinschaft, in der und von der er lebt. Das sind alles keine großen Einsichten, aber die praktischen Konsequenzen, zum Beispiel, dass ein Schriftsteller gelegentlich mal eine politische, vielleicht sogar parteipolitische Veranstaltung besuchen, sich als Wahlhelfer betätigen, in Schulen, literarischen Vereinen seine Begabung und seinen Phantasiereichtum gelegentlich in den Dienst anderer zu stellen bereit sein sollte.

IX.
Vorschläge

Ich will zum Schluss einige Vorschläge machen, wie das von mir beschriebene Synergiepotenzial in einen Handlungsplan oder besser noch gleich in die Tat umgesetzt werden kann. Ich fange an mit dem, für das es auch in Thüringen schon Beispiele gibt und schwinge mich dann nach und nach auf zu Vorschlägen, die Ihnen vielleicht utopisch vorkommen mögen.

Als einen schönen Brauch empfinde ich es, dass politische Parteien gelegentlich Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu Mitgliedern der Bundesversammlung, die bekanntlich den Bundespräsidenten wählt, bestimmen. In Thüringen hat zum Beispiel im Jahr 2017 die Linke den Schriftsteller Landolf Scherzer in die Bundesversammlung entsandt. Das verdient Nachahmung auch seitens anderer Parteien und auch bei der Besetzung anderer Ehrenämter und repräsentativer Aufgaben.

Mich persönlich hat es sehr gefreut, dass der Ministerpräsident in diesem Jahr zweimal literarische Ereignisse durch seine persönliche Anwesenheit und gedankenreiche Grußworte geehrt hat. Auch für die Grußworte und die Präsenz der Staatssekretärin, zum Beispiel heute, sowie für die Präsenz des Kultusministers und seine Teilnahme am literarischen Diskurs bei verschiedenen Gelegenheiten dürfen wir dankbar sein – und uns verstärkte Fortsetzung wünschen.

Ende August haben wir im Landtag unseren verstorbenen Freund und Helfer Hans-Jürgen Döring mit einer literarischen Gedenk-Veranstaltung geehrt. Seine Freunde aus Politik und Literatur haben aus seinen Werken gelesen. Wer dabei war, weiß, welch stille und dichte Stimmung im Saal herrschte. Das kam wohl daher, dass jeder, der das Wort ergriff, lassen Sie mich den etwas pathetischen Ausdruck benutzen, aus tiefster Seele sprach. Warum also nicht diese wunderbare Erfahrung aufgreifen und einmal im Jahr Politiker und Schriftsteller und Freunde der Literatur zu einer literarischen Veranstaltung im Plenarsaal des Landtags einladen? Thüringen hat große Schriftsteller hervorgebracht und wird sie weiter hervorbringen. Das ins öffentliche Bewusstsein zu heben und deutlich zu machen, dass Literatur ein Teil des Lebens im Lande ist, scheint mir der Mühen wert.

Vor einigen Jahren klagte ein Vertreter der Landesregierung, den wir zu einem Grußwort eingeladen hatten, er wisse so wenig über die zeitgenössische Thüringer Literatur, ein bestimmtes Buch, das er gebraucht habe, sei in seinem Ministerium nicht greifbar. Da könnte leicht geholfen werden. Warum sollten nicht die Thüringer Ministerien jährlich einen Betrag von vielleicht 1000 € zur Verfügung haben, um sich eine kleine Handbibliothek mit Thüringer Gegenwartsliteratur leisten zu können? Entsprechende Buchvorschläge würden die literarischen Vereine in Thüringen gerne zur Verfügung stellen.

Ich kenne nicht die protokollarischen Gepflogenheiten des Freistaats beim Empfang auswärtiger Besucher und umgekehrt bei Reisen in außerthüringische Gefilde. Hier und da ein kleines Buchgeschenk aus dem reichen Schatz der literarischen Produktion Thüringens vorrätig zu haben, wäre aber gewiss kein Fehler und eine schöne, den Schenker als gebildeten Menschen zierende Geste. Auch dazu mangelt es bei uns nicht an Ideen. Es müssen ja nicht immer Pralinen, von innen leuchtende Goetheköpfe oder Schmucktassen aus der heimischen Porzellan-Fabrikation sein.

Ich habe mir mal die Webseite angeschaut, mit der sich der Freistaat Thüringen im Internet präsentiert. Man findet dort, hübsch aufgemacht und intuitiv bedienbar, lauter sogenannte Themen-»tags«. Zum Beispiel unter dem »tag« mit der Bezeichnung »Leben« findet man den Satz »mindestens 15 cm lang« – das bezieht sich natürlich auf eine Bratwurst. Daneben gibt es aber auch einen »tag« »Goethe«, hier dachte ich, der Name des Dichters stünde stellvertretend für die Literatur schlechthin und erwartete einen kleinen Überblick über die Thüringer Literaturlandschaft. Was aber kam war etwas anderes, nämlich ein Hinweis der Thüringen Tourismus GmbH auf die, und jetzt wörtlich »Playmobil-Sonderedition des berühmten Dichters«. Das war alles zum Stichwort Goethe. Liebe Landesregierung, ich glaube, da geht noch was!

Es gibt noch weitere Ideen, da bin ich sicher, lassen Sie mich nur eine noch nennen. Deutschland hatte von Wolf Biermann über Franz-Josef Degenhardt bis hin zu den Puhdys eine wunderbare Tradition des politischen Liedes. Heute blüht diese Pflanze mehr oder weniger im Verborgenen. Warum sollte nicht in Thüringen, sei es in Kochberg oder in Ranis oder in Erfurt ein »Festival des politischen Lieds« entstehen? Vielleicht sogar international angelegt, oder europäisch? Man könnte dem sich gleichzeitig breitmachenden martialisch-barbarischen Politrock von Themar doch etwas entgegensetzen? 

Jens Kirsten hat mich dankenswerter Weise darauf aufmerksam gemacht, dass es ein solches Festival und mit genau diesem Namen in der DDR gab und die Erinnerung daran nicht jeden in Festlaune versetzen wird. Vielleicht sollte man also einen anderen Namen wählen. Vielleicht war aber auch an der Grundidee des DDR-Festivals etwas Richtiges, so dass es sich lohnen würde, der angekratzten Ehre des Namens mit neuem Geist zu neuem Glanz zu verhelfen? 

Sie merken, ich formuliere das alles nicht im Sinne von Forderungen, sondern von Vorschlägen, Anregungen, Fragen. Man kann auf dem Gebiet von Geist und Kreativität wenig bis gar nichts mit Gesetzen, Durchführungsverordnungen und Verwaltungsanweisungen erreichen. Aber man kann die kulturelle Atmosphäre eines Landes sehr leicht mit ziemlich wenig Geld und von Herzen kommenden Ideenreichtum beeinflussen. Politiker können Zeichen setzen.

Wie sagte Goethe: »Das Beispiel des Fürsten wirkt mächtig um sich her und fordert mit heimlicher Gewalt jeden Staatsbürger zu ähnlichen Handlungen auf …«

X.

Ich danke Ihnen für Ihre Geduld!

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