»There’s a Bluebird in my heart« – Lyrik am Atlantikstrand (15.08.22)
Vendays-Montalivet (die Einheimischen sagen einfach: Monta) ist ein zauberhafter kleiner Ort an der französischen Atlantikküste. Er liegt etwa 100 Kilometer nördlich von Bordeaux, ist bekannt für seinen Strand, seine Sonne, seinen Markt, seine kommunale Bibliothek, die kleinen Läden, Cafés und Restaurants und für die freundliche und entspannte Atmosphäre, die im Sommerhalbjahr Touristen aller Altersstufen anzieht. Hier trifft sich ein internationales und vergnügungsfrohes Publikum von Individualisten, das auf Hotelburgen und All-Inclusive-Verpflegung pfeift. In diese Atmosphäre passt sehr gut »Le Cube«, ein kubisches zweistöckiges Haus direkt am Strand, einfach, geschmackvoll und überaus praktisch eingerichtet als »Coworking-Space«. Man kann sich hier einen Schreibtisch mit Internet-Anschluss mieten und mit Blick aufs Meer seiner Arbeit nachgehen.
Davon machen gar nicht so wenige, vor allem junge Leute aus ganz Europa Gebrauch, die sich in der Nähe für ein paar Wochen oder Monate eine Bleibe gesucht haben und während oder nach der Arbeit Lust auf spektakuläre Sonnenauf- und Untergänge und kleine Abstecher ins Meer haben.
»Le Cube« ist aber mehr als ein Bürohaus. Es ist gleichzeitig ein Ort der Begegnung und der Kultur, mit staatlichen und kommunalen Mitteln gefördert. »Le Cube« verdankt seine Lebendigkeit einem Verein aus ehrenamtlich tätigen Menschen, die nicht nur die (recht günstige) Vermietung der Arbeitsplätze managen, sondern daneben Sprachkurse, Konzerte, Ausstellungen und Gesprächsabende veranstalten. Eine Gruppe leitet den Verein: Marye Dambrun, Künstlerin und Photographin, Sabine Linères, Graphikerin, Séverine Hebert, eine gelernte Buchhändlerin, die aus dem tropischen La Réunion stammt, sowie Larissa Fuad und Paula Scholemann, die beide in dem nicht ganz so tropischen Köln geboren wurden. Ihr Angebot zielt sowohl auf touristisches Publikum als auch auf die einheimischen Bürgerinnen und Bürger. Man legt Wert auf Niveau und gleichzeitig auf eine offene und kolloquiale Atmosphäre.
»Le Cube« – Photo: Greg Bronard
Ein schönes Beispiel durfte ich am 6. Juli 2022 miterleben. »Le Cube« hatte zu einem Lyrikabend eingeladen. Jeder, der weiß, wie schwer es ist, für Lesungen selbst mit namhaften Dichtern und in großen Städten mehr als fünfzehn Zuhörerinnen zu gewinnen, ahnt: Für die Leute von »Le Cube« glich dieses Vorhaben einer Mutprobe. Deshalb hatten sich die Organisatorinnen etwas einfallen lassen. In der Einladung hieß es, jeder könne ein eigenes Gedicht und/oder ein Lieblingsgedicht aus fremder Feder mitbringen, die Sprache sei dabei egal. So war für alle klar, dass es keine Hierarchie zwischen einem Gesalbten der hohen Kunst auf der einen und dem still staunenden Publikum auf der anderen Seite geben würde, sondern dass alle etwas beitragen und miteinander ins Gespräch kommen konnten. Man war Publikum und Akteur zugleich.
Die Cube-Leute hofften auf zehn oder zwölf Gäste, fürchteten, es kämen vielleicht nur fünf und waren hoch überrascht, als sich fünfmal so viele einfanden und fast jeder etwas zum Vorlesen mitgebracht hatte. Und der Abend wurde auch keineswegs, wie so viele Lyriklesungen, eine Ü-70-Party; die Altersspreizung ging, nach dem Augenschein zu urteilen, von 14 bis 80. Vom Schüler bis zur pensionierten Schiffskapitänin, von der jungen Webdesignerin bis zum Vorsitzenden des örtlichen Bibliotheksvereins und neugierigen Touristen. Es gab selbstgemachte Gedichte von überraschend professioneller Machart und vor allem gut ausgesuchte Lyrik der klassischen Moderne. Die Schiffskapitänin hatte einige Zeilen über das Meer und das Leben mitgebracht, eine junge Frau aus Deutschland trug Hermann Hesses »Stufen« vor, eine Französin hatte ein Gedicht über den Markt von Montalivet dabei, eine andere begeisterte mit einem fabelhaften Bukowski-Klassiker, der Leiter des Bibliotheksvereins las einen satirischen Text über Ebbe und Flut (Le flux et le reflux) auf sehr witzige Weise vor. Und bestimmt habe ich jetzt noch einiges vergessen.
Was mich am meisten beeindruckt hat, war etwas, das man bei Lesungen im professionellen Lyrikbetrieb so gut wie nie erlebt: Die Gedichte lebten. Die sie vortrugen, taten das nicht um irgendeine Form von schreiberischer Rafinesse zu zeigen oder um zu beweisen, was sie alles gelesen hatten. Die Gedichte drückten etwas aus, das ihnen am Herzen lag, das wichtig war und das sie anders nicht hätten sagen können. In einem Fall zum Beispiel handelte es sich um einen sehr liebevollen Trost für einen anderen (ebenfalls anwesenden) Menschen. Sagen wir es rundheraus: Es flossen auch Tränen. Die Poesie war kein Schmuck, sie war eine Notwendigkeit. Jeder, der etwas vortrug, gab ein Stück von seiner Seele frei. Es entspannen sich nachdenkliche Gespräche, man lachte, trank ein Glas Wein, griff gelegentlich in die Chips und Erdnüsse, die auf dem Tisch standen, sprach Französisch, Englisch, Deutsch.
Nach etwa eineinhalb Stunden ging man auseinander und beim Abschied fragte jemand den Vorsitzenden des Bibliotheksvereins, der die kleine Satire des französischen Humoristen Raymond Devos meisterhaft vorgelesen hatte, ob es sein könne, dass Raymond Devos aus Belgien stamme. »Nein« sagte er, »unmöglich, er war Franzose, das merkt man doch!«. Dann schaute man gemeinsam bei Wikipedia nach und stellte fest, dass Devos tatsächlich in Belgien geboren wurde. Und einer sagte: »Einen Fehler hat jeder!«
Und hier ein kleiner Querschnitt der vorgetragenen Gedichte. Die jeweils beigefügten Übersetzungen stammen von mir; sie sind als etwa willkommene Verständnishilfen gedacht und erheben keinen literarischen Anspruch.
Charles Bukowski (1920–1994): There’s a Bluebird in my heart
There’s a bluebird in my heart that
wants to get out
but I’m too tough for him,
I say, stay
In there, I’m not going
to let anybody see
you.
There’s a bluebird in my heart that
wants to get out
but I pour whiskey on him and inhale
cigarette smoke
and the whores and the bartenders
and the grocery clerks
never know that
he’s
in there.
There’s a bluebird in my heart that
wants to get out
but I’m too tough for him,
I say,
stay down, do you want to mess
me up?
you want to screw up the
works?
you want to blow my book sales in
Europe?
There’s a bluebird in my heart that
wants to get out
but I’m too clever, I only let him out
at night sometimes
when everybody’s asleep.
I say, I know that you’re there,
so don’t be
sad.
Then I put him back,
but he’s singing a little
in there, I haven’t quite let him
die
and we sleep together like
that
with our
secret pact
and it’s nice enough to
make a man
weep, but I don’t
weep, do you?
Charles Bukowski: Da ist eine Amsel in meinem Herzen
Da ist eine Amsel in meinem Herzen, die
will da raus
aber ich bin zu clever,
ich sage, bleib wo du bist, ich werde
dich niemandem zeigen.
Da ist eine Amsel in meinem Herzen,
die will da raus,
aber ich schütte sie mit Whiskey zu und inhaliere
Zigarettenrauch
und die Nutten und die Barkeeper
und die Typen im Supermarkt
erfahren niemals,
dass sie
da drinnen ist.
Da ist in eine Amsel in meinem Herzen,
die will da raus,
aber ich bin zu clever für sie,
ich sag,
bleib gefälligst drin, willst du mich
ruinieren?
Willst du mein Lebenswerk
vermasseln
und meine Verkaufszahlen in Europa
in den Keller jagen?
Da ist eine Amsel in meinem Herzen,
die will da raus,
aber ich bin zu clever, ich lass sie nur
nachts raus, manchmal
wenn alle schlafen,
ich sag ihr, ich weiß genau dass du da bist,
also bitte, sei nicht
traurig.
Dann tu ich sie wieder zurück,
aber sie singt ein bißchen
da drin, ich hab’s nicht geschafft, sie ganz
sterben zu lassen
und wir schlafen zusammen so wie
dass
wir einen Geheimvertrag haben
und das ist schön genug,
dass es einen Mann
zum Weinen bringen könnte,
aber ich weine nicht,
du etwa?
Jules Supervielle (1884–1960): La mer secrète
Quand nul ne la regarde,
La mer n’est plus la mer,
Elle est ce que nous sommes
Lorsque nul ne nous voit.
Elle a d’autres poissons,
D’autres vagues aussi.
C’est la mer pour la mer
Et pour ceux qui en rêvent
Comme je fais ici.
Jules Supervielle: Das geheime Meer
Wenn niemand es anschaut,
Ist das Meer nicht länger das Meer,
Es ist das, was wir sind,
Wenn uns niemand sieht.
Es hat andere Fische,
Auch andere Wellen.
Es ist das Meer für das Meer
Und für die, die von ihm träumen,
So wie ich gerade.
Danièle Garcia (habite à Montalivet): Monta mythique
Le jazz au bar à vin trompette et fait la fête.
Gilet, chemise blanche et chapeau mal paillé,
Un jeune Miles Davis enflamme le marché
D’un vieux swing de Harlem. Debout à la buvette
On boit, collé serré, le rubis du vignoble.
L’ambre et l’or dans les verres clignent et aux tables,
Par douzaines les huîtres pleurent, délectables,
Leurs larmes d’océan. Un air de paso doble
A sa bouche écarlate et une fleur de feu
Dans ses cheveux de nuit, l’Andalouse aux yeux noirs
Depuis mille ans nous sert, les doigts en encensoirs,
Son divin taboulé dans son cabanon bleu.
Les senteurs des rôtisseries, des salaisons
Se mêlent aux encens des étals et s’écoule
En un ras-de-marée bienheureux une houle
D’estivants demi-nus, dorés comme brugnons.
[…]
Hamacs, miroirs et cuirs côtoient des matelas.
On fouille des monceaux de vêtements en vrac.
Chacun trouve sa perle et enfouit dans son sac
Le fabuleux trésor, se laisse à chaque pas
Emporter par le flot brûlant, voluptueux
De l’été à Monta et les cœurs enivrés,
Les rires, les accents, tous les corps emmêlés
Au même lit se baignent. Nobles comme gueux
Chaque matin se ruent vers les rites païens
Du grand sabbat marin au charme ensorceleur,
Puisent dans les allées leur pesant de bonheur,
Prennent un bain d’humanité, heureux bohémiens.
Montalivet, dimanche 29 août 2021
Danièle Garcia (lebt in Montalivet): Mythisches Monta
Der Jazz in der Weinbar trompetet und feiert ein Fest.
Weste und weißes Hemd, abgewetzter Strohhut,
Ein junger Miles Davis entflammt den Markt
Mit einem alten Harlem-Swing. Man steht an der Bar
Dicht an dicht, man klebt aneinander und trinkt den
Rubin des Weinbergs. Bernstein und Gold – es blinkt in den Gläsern
Und an den Tischen weinen die köstlichen Austern zu Dutzenden
Tränen des Ozeans. Eine Paso-Doble-Melodie
Auf ihrem scharlachroten Mund und eine feurige Blume
Im nächtlichen Haar: Die Andalusierin tritt auf,
Schwarzäugig. Seit tausend Jahren serviert sie,
Die Fingerspitzen vom köstlichen Weihrauch verwöhnt,
Ihr göttliches Taboulé in der blauen Hütte.
Düfte gebratenen Fleischs und gepökelter Schinken,
Vermischt mit den Räucherkerzengerüchen vom Strand,
Es umfließt uns in einer glückseligen Flut ein Schwall
Von halbnackten Sommergästen, golden wie Nektarinen.
[…]
Hängematten, Spiegel und Lederfetzen neben Matratzen.
Man wühlt in Gebirgen von losen Kleidungsstücken.
Niemand, der hier nicht fündig würde und seine Perle
Nicht rasch vergrübe in seiner Tasche, den kostbaren Schatz.
Mitgerissen wirst du, Schritt für Schritt von der wollüstigheißen
Flut des Sommers in Monta, die Herzen berauschen sich gern,
Das Lachen, das Sprachengewirr, die fremden Akzente,
Und alle Körper baden im selben Bett, verwickelt,
Die Vornehmen und die Proleten, sie stürzen sich
Jeden Morgen von Neuem in ihre heidnischen Riten.
Ein großer Meeressabbat und sein betörender Zauber, alles
Gewinnt in den Gassen und Wegen das schwere Gewicht endlosen
Glücks: Das Bad in der Menschlichkeit, glücklich sind wir, glückliche Bohemiens.
Montalivet, Sonntag, 29. August 2021
Ulrike Brune: Eifel, im kleinen Hof
Wenn ich
in dem kleinen Hof sitze
mit den hohen alten Mauern
über mir nur ein Stück vom Himmel
und das lichte Dach des Blauregens
und ein Sonnenstrahl schafft es
mein Gesicht zu wärmen
dann ist es Sommer
in meiner Eifel.
Ulrike Brune: Eifel*, dans la petite cour
Quand je suis
assis dans la petite cour
avec les hauts murs anciens
au-dessus de moi, il n’y a qu’un bout de ciel
et le toit clairsemé du bleuet
et qu’un rayon de soleil parvient à
réchauffer mon visage
alors c’est l’été
dans mon Eifel.
* L’Eifel est une moyenne montagne allemande située à l’est des Ardennes ; elle est connue pour son bon air, son brouillard abondant et son très faible ensoleillement. On ne sait pas si le constructeur de la tour Eiffel (Gustave Eiffel) avait des ancêtres ici.
Hermann Hesse (1877–1962): Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
Anonyme: Les leurs ou les tiens?
Si tu pousses tes enfants,
Ils perdront l’équilibre.
Si tu les fais toujours courir d’un côté à l’autre,
Ils n’iront nulle part.
Si tu les mets sous les feux des projecteurs,
Ils seront incapables de voir leur propre lumière.
Si tu cherches à leur imposer tes idées
sur ce qu’ils devraient être,
Ils ne seront rien.
Si tu veux qu’ils grandissent,
Fais ce que tu peux pour leur sécurité
Puis lâche prise.
Anonym: Gehören sie sich oder gehören sie Dir?
Wenn Du Deine Kinder herumstößt,
Verlieren sie das Gleichgewicht.
Wenn Du sie immerzu hierhin und dorthin schickst,
Gehen sie nirgendwohin.
Wenn Du sie ins Rampenlicht stellst,
Werden sie blind für ihr eigenes Licht.
Wenn Du versuchst ihnen Deine Idee
Von dem, was sie werden sollen, aufzuzwingen,
Werden sie gar nichts werden.
Wenn Du möchtest, dass sie wachsen,
Tu alles, um ihnen Sicherheit zu geben.
Und dann lass sie los.
Jacques Prévert (1900–1970): Quand la vie est un collier…
Quand la vie est un collier
Chaque jour est une perle
Quand la vie est une cage
Chaque jour est une larme
Quand la vie est une forêt
Chaque jour est un arbre
Quand la vie est un arbre
Chaque jour est une branche
Quand la vie est une branche
Chaque jour est une feuille
Quand la vie est la mer
Chaque jour est une vague
Chaque vague une plainte
Une chanson un frisson…
Jacques Prévert: Wenn das Leben eine Kette ist…
Wenn das Leben eine Kette ist,
Ist jeder Tag eine Perle.
Wenn das Leben ein Käfig ist:
Jeder Tag eine Träne.
Wenn das Leben ein Wald ist:
Jeder Tag ein Baum.
Wenn das Leben ein Baum ist:
Jeder Tag ein Zweig.
Wenn das Leben ein Zweig ist:
Jeder Tag ein Blatt.
Wenn das Leben das Meer ist,
Ist jeder Tag eine Welle,
Jede Welle eine Klage
Und dieses Lied ein Seufzer…
Der kurze Text »Le flux et le reflux“ von Raymond Devos ist – jedenfalls für mich – nicht angemessen ins Deutsche übersetzbar. Wer gut Französisch kann findet bei youtube: https://www.youtube.com/watch?v=7y_vCTeFTI8 eine hübsche Version.