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Schlechte Zeiten für Thersites (15.03.22)

 

I. Homer

Die früheste Darstellung eines Krieges in der europäischen Literatur entstand im 8. Jahrhundert vor Christus. Homers »Ilias« schildert den Kampf der Griechen gegen die (ebenfalls Griechisch sprechenden) Trojaner, die ihre Stadt nach zehn Jahren grausamsten wechselseitigen Mordens aufgeben müssen. Der vom trojanischen Prinzen Paris begangene Raub der schönen Helena aus Sparta war damit gerächt. Die für mich als eingefleischten Pazifisten interessanteste Gestalt, ja der eigentliche Held, ist der griechische Soldat Thersites.

»Der hässlichste Grieche vor Troja,
säbelbeinig, hinkend auf einem Fuße,
trichterbrüstig und bucklig und krumm,
mit verwachsenem Kopf und spärlicher Wolle darauf.«

Also ein hässlicher Mann, der zu allem Überfluss auch noch eine unangenehme Fistelstimme hat. Warum ist er für mich ein Held? Weil er sich noch vor dem ersten Waffengang als einziger Grieche gegen den Krieg ausspricht. Was geschieht mit ihm? Er wird dermaßen durchgeprügelt, dass er in der ganzen »Ilias« nicht mehr vorkommt. Wäre es besser gewesen, man hätte auf ihn gehört? Oder hätten sich die Trojaner dadurch etwa zu weiteren Frauenentführungen ermutigt gefühlt?

II. Ist Kapitulation eine Schande?

Offensichtlich ja. Jedenfalls gegenüber einem so schmählichen Angriff wie dem Putins gegen die Ukraine. Putin steht für die Idee rücksichtsloser und grausamer Despotie. Seit mindestens einem Jahrzehnt lässt er niedermachen, wer immer ihm in die Quere kommt. Wenn man ihm nichts entgegensetzt, unterwirft man sich. Und was sollte man ihm entgegensetzen, wenn nicht Waffen und die Bereitschaft, sie, koste es was es wolle, einzusetzen? Wenn wir frei leben wollen, müssen wir ihm, so scheint es, mit den Mitteln begegnen, die ihn – vielleicht – beeindrucken.

III. Der Preis

Allerdings hat das einen Preis, der schon jetzt sichtbar wird. Wir müssen aufrüsten, auch wenn wir das eigentlich nicht wollen. Wir müssen Kohlekraftwerke und Kernkraftanlagen wieder in Betrieb nehmen, auch wenn wir gestern noch gesagt haben, dass es ein Fehler wäre, das zu tun. Wir müssen auch bereit sein, unsere Waffen einzusetzen, was bedeutet, dass wir zum massenhaften Töten bereit sein müssen, was wir doch überhaupt nicht wollen. Und da Krieg auch immer Informationskrieg ist, werden wir die Ansprüche an unsere eigene Wahrhaftigkeit einschränken müssen. Wir werden es nicht schlimm finden dürfen, wenn unsere Geheimdienste besser lügen als die des Gegners. Wir schränken also unsere Freiheit samt unserer Moral ein, um sie zu verteidigen? Ja, genau das tun wir.

Wer unter gegenwärtigen Bedingungen dennoch an der pazifistischen Idee allseitiger Entwaffnung und Aufrechterhaltung unserer moralischen Ansprüche festhält, dem wird vorgeworfen, seine Naivität spiele der Macht des Bösen, der eben zur Niederlegung der Waffen niemals bereit sei, in die Hände. Auch das dürfte richtig sein.

Wir sind also offenkundig in einem Dilemma. Egal, ob wir am Pazifismus festhalten oder nicht: Gegenüber der Bedrohung durch einen Gewalttäter können wir unsere moralischen Ansprüche und unseren Friedenswillen nicht aufrechterhalten. Wir werden uns die Hände schmutzig machen müssen, so oder so.

Was wir aber vielleicht tun können ist: Dass wir einander zuhören und uns nicht beschimpfen. Wenn wir mit Anstand behaupten wollen, wir müssten zum Krieg bereit sein, um unsere Freiheit zu verteidigen, dann müssen wir auch die Freiheit der Gegner des Krieges schützen. Wir dürfen sie nicht zu Feinden erklären. Sie haben auch Argumente. Michel de Montaigne zum Beispiel spricht im Ersten Buch seiner »Essays« von Situationen, in denen die Kapitulation auch bei noch so ungerechtem Angriff zur moralischen Pflicht werde.

IV. Eine Flamme der Zuversicht sein

Der englisch-amerikanische Dichter W. H. Auden schrieb an dem Tag, als Hitler den 2. Weltkrieg begann, ein Gedicht mit dem Titel »1. September 1939«. Die letzte Strophe lautet wie folgt:

Defenceless under the night
Our world in stupor lies;
Yet, dotted everywhere,
Ironic points of light
Flash out wherever the Just
Exchange their messages:
May I, composed like them
Of Eros and of dust,
Beleaguered by the same
Negation and despair,
Show an affirming flame.

Schutzlos unter der Nacht
Liegt unsere Welt im Vollrausch.
Und doch, überall verteilt, sind
Ironische Lichtpunkte,
Die aufblitzen, wo immer
Die Gerechten ihre Botschaften austauschen.
Ach, dass ich doch,
Wie sie gebaut aus Lust und Staub,
Gequält wie sie von Negation
Und von Verzweiflung,
Eine Flamme zeigen könnte,
Die von Zuversicht
Und von Bejahung spricht.

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