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Radiotexte

Vom Leben erwarte ich noch den Tod

Alte Leute im Heim


Christoph Schmitz u. Wolfgang Schmitz

 

 

Erstsendung am 13. Januar 1972, 21:45 bis 22:30 Uhr
WDR 3

Sprecher 1
Sprecher 2
Autor

O-Töne:
– Herr Hopf, Frau Scholz, Frau Rosendahl, Herr Rother, Frau Adams, Frau Klever (Bewohner des Altenheims Stadt Dinslaken), jeweils im Gespräch mit dem Autor
– Chor der Bewohner des Altenheims Stadt Dinslaken
– Frau Birgit Wilfinger (Leiterin des Altenheims) im Gespräch mit einer Pflegerin und dem Autor, Frau Meta Dümmen (Ortsvorsitzende und Kreisvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt), Herr Termat (Leiter des Kreis­sozialamtes)

 

Sprecher 1:
In der Bundesrepublik gibt es knapp 300.000 Plätze in Wohneinrich­tungen für alte Leute. Die vorhandenen 300.000 Betten stehen zu über 90 % in Einrichtungen der freien Wohlfahrtsverbände und der öffen­tlichen Hände. Die Einrichtungen werden unterschieden nach dem Grad der Versorgung, die sie den alten Leuten anbieten:

Sprecher 2:
Altenwohnheime mit loser Betreuung, Altenheime mit Vollver­sorgung, Pflege- und Siechenheime mit Totalpflege. Das Gros machen die Altenwohnheime aus.

Autor:
Ein krummbeiniger, kleiner Greis wackelt an 2 Stöcken von seinem Topfbett über den Flur in Richtung Toilette, an seinem Bauch hängt eine oft gestopfte feuchte gelbe Unterhose. Der Mann kann das Wasser nicht halten und zieht eine stinkende Urinspur über den Linoleumboden. Sehr langsam und ernst sagt er: »dann nehme ich eben den Zug.« Und er nimmt auf der Klobrille Platz, stolz, den Weg zum Klo alleine gefunden zu haben.

Sein Zimmerkollege liegt im Sterben. Wenige Stunden bevor es mit ihm zu Ende ist, ruft er: »So wahr ich Emil heiße, auf den Höhen des Himalaya bin ich Petrus Methusalem und mein Nachbar ist ein hässlicher Geier.« Der Nachbar grinst und brummt: »du kratzt ab, und zwar bald.«

Diese Szene erlebte ich Anfang März 1970 im Altenheim Stadt Dinslaken, 5 Monate, nachdem ich meinen Ersatzdienst dort angetreten hatte. Da die Heimleiterin im Dezember 1969 für längere Zeit arbeitsun­fähig wurde und in der Eile kein passender Vertreter zuhanden war, beauftragte mich der zuständige Sachbearbeiter beim Trägerverband, dem Bezirk Niederrhein der Arbeiterwohlfahrt, mit der provisorischen Heimleitung. Genau ein Jahr lang versah ich diese Tätigkeit. Ich lernte außer den alten Leuten und der Funktionsweise des Heimbetriebs die Menschen kennen, die sich berufs- und neigungshalber mit den Alten beschäftigen: die Verwandten, die Putzfrauen und Pflegerinnen, Haus- und Fachärzte, Lokalpolitiker, Begräbnisunternehmer, Sozialarbeiter, Köchin, Gärtner, Priester.

Sprecher 1:
Das Altenheim Stadt Dinslaken liegt, 10 m von der Eisenbahnlinie Ruhr­gebiet Holland entfernt, am Rande des Dinslakener Vorortes Hiesfeld.

Der 3-geschossige, graubraune Bau, in dem heute 46 alte Leute, 2 Angestellte und ein Kriegsdienstverweigerer zusammenleben, wurde kurz nach der Jahrhundertwende errichtet. Er diente einige Jahrzehnte als Rathaus und wurde später zu einem Obdach für Waisenkinder und alte Leute umgestaltet. 1966 stellte die Stadt Dinslaken auf das Nachbargrundstück ein Kinderheim, ließ das alte Waisenhaus zu einem Altenheim umbauen und übergab beide Sozialanstalten dem Bezirk Nieder­rhein der Arbeiterwohlfahrt zur Bewirtschaftung.

Die Bewohner des Altenheims, vielfach »Heiminsassen« genannt, wurden zwischen 1880 und 1917 geboren. Viele von ihnen stammen aus den ehemals deutschen Ostgebieten. Von Kriegen und Hungersnöten wurden sie in das Ruhrgebiet vertrieben.

Heute, im Altenheim, bewohnen die alten Leute vier Dreibett-, vier Einzel- und fünfzehn Doppelzimmer, sie benutzen acht Toiletten, fünf Bäder, einen Fernsehraum, einen Speisesaal, zwei Balkons und eine kleine Parkanlage.

O-Ton Autor/Hopf:
Das Zimmer ist groß, sauber, und Essen genug, natürlich: so, wie die Mutter kocht, wird nicht gekocht. Das sind die nicht gewöhnt.

Und was gefällt dir nicht?
Muss gefallen. Es ist bloß, du bist, wie will man sagen, wenn man einen alten Baum versetzen will, net, jetzt hat man den Drang nach Hause, net, ich habe auch niemand zu Hause, aber der Drang ist da. Aber so, ich hab schon andere Gefangenschaft mitgemacht als wie ihr, hier ist ja auch Gefangenschaft.

… Gefangenschaft …?
Ja, wieso, wieso, das Gefühl ist da als Gefangener. Du musst sagen, wo du hin gehst, überall wirst du angeglotzt als Gefangener, als Verbrecher wird man angeglotzt. Das ist nichts, wir haben die Gefangenschaft zur Genüge kennengelernt, die Gefangenschaft war bitter.

O-Ton Autor/Scholz:
Weil ich so schlecht auf die Beine war, hatte ich gedacht, ich wär geh lieber ins Altersheim. Da hatte ich zu der einen Frau gesagt. Und da hat es gleich die Schwester bestellt und da krieg ich gleich ne Stelle. Und da wollte ich auch nicht mehr nein sagen und da bin ich eben rein gegangen. Bin ein bisschen zu früh rein gegangen. Ich hätte ja bei mich auch bleiben können, ich hatte ja so viele Bekannte in Lohberg, ich wohne ja schon seit 1914 in Lohberg.

Bereuen Sie, dass Sie ins Altersheim gekommen sind?
Ja, tue ich richtig bereuen, ist nichts mehr dran zu machen, ich hab ja meine Möbel aufgegeben, hab ich ja verkauft.

O-Ton Chor:
Was frag ich viel nach Geld und Gut:
was frag ich nach viel Geld und Gut,
wenn ich zufrieden bin.
Wenn Gott mir nur gibt gesundes Blut,
so hab ich frohen Sinn.
Und singt aus dankbaren Gemüt
mein Morgen- und mein Abendlied.

O-Ton Autor/Rother:
Ich bin geboren 1928 – 28 – 8 – 99 … 1899 … Dann bin ich geboren.

Was haben Sie ihr liebes langes Leben lang getan?
Mein ganzes Leben lang habe ich getragen. Russland.

Da sind Sie geboren?
Nein, da bin ich geboren. Russland, Österreich, Deutschland und Jugoslawien und dann bin ich geboren, weiter bin ich jewesen in diesem in in in in in … Kaukasus, Taschkent, Ural, Thul, da war ich jewesen in de warrrmen Jejenden, ne, da war ich jewesen, da hab ich Weintrauben jepfluckt.

Sprecher 1:
Ein Platz hier kostet zwischen 400 und 700 DM monatlich, je nach Ge­brechlichkeit des Mieters. Nur knapp die Hälfte der alten Leute ist in der Lage von ihrer Rente die Heimpflegekosten zu bestreiten. Die an­deren müssen Sozialhilfe in Anspruch nehmen. Ihre Renten – manche liegen nur knapp über 100 DM – zieht der jeweils zuständige Sozialhilfe­träger ein und schießt den Fehlbetrag zu. Er überweist die Pflegekosten an die Arbeiterwohlfahrt. Das Taschengeld wird den Hilfsempfängern an jedem Ersten gegen Quittung von der Heimleiterin ausgezahlt. 30 Mark. Es reicht entweder für eine Flasche Bier oder für ein Päckchen Zigaretten am Tag. Aber auch denen, die ihren Heimaufenthalt selber finanzieren, bleiben selten mehr als 50 oder 80 DM zur freien Verfügung.

O-Ton Autor/Rother:
Wie gefällt es Ihnen hier?
Ja, wenn ich nicht betrogen wäre, gefällt’s mir ganz gut …

Werden Sie denn betrogen?
Freilich werde ich betrogen. Ich ich jeh rein jestern, bei die Schwester, und hab ihr jebeten, ich bin jetzt so krank jewesen, sie soll doch einsehen, dass ich etwas Jeld krieg, dass ich mich was kann kaufen.

Sie kriegen doch hier zu essen.
Mit dem kann ich nicht bestehen.

Brauchen Sie mehr oder anderes?
Ich brauch anderes!

Schnaps …?
Nein, Schnaps, ich brauch haben weiches Essen, verstehen Sie, weiches Essen. Ich brauch haben Weintrauben, ich brauch haben diese weichen Apfelsinen, diese Birnen, und brauch haben diesen Kuchen …

Kriegen Sie doch alles hier!
Ja, krieg ich doch alles gekauft …

Nein, Sie können alles auch hier im Heim bekommen.
Doch sicher!

O-Ton Scholz:
Waren Sie in einer Partei oder sind Sie es noch?
Ja, ich war, ich bin ja in der Partei. Mein Mann war ja immer in der Partei, aber ich …

In welcher denn?
Ja, zuerst war er bei den Sozialdemokraten, war er. Wir sind immer links gewesen, er war auch aus der Kirche raus. Ich war auch aus der Kirche raus, bin wieder in die Kirche rein. Wie ich da war, haben sie mir gesagt, wenn ich nicht wieder in die Kirche gehe, dann würde ich beer­digt wie son Hund. Bin ich wieder in die Kirche reingegangen wie er gestorben war, vorher nicht.

Autor:
Weder unter den alten Leuten noch unter dem Personal gibt es aka­demisch gebildete Menschen. Das Milieu ist lupenrein Arbeitermilieu. Einige Fernseh-Redakteure und ihr Quizmaster fanden das derart degoutant, dass sie nach einem Test-Gespräch im Januar 1970 die Ab­sicht aufgaben, eine TV-Veranstaltung mit den Bewohnern und dem Personal zu machen. (Anscheinend hielt man die alten Leute für zu dumm, um gewinnbringend für dumm verkauft zu werden).

O-Ton Autor/Adams:
Jetzt zur Zeit bekommst Du keine Rente?
Jetzt hatte ich ja noch keine Rente gekriegt. Jetzt ist doch die Rente erhöht worden, im Januar glaube ich, wie viel weiß ich nicht.

Ja, Du hast eine sehr kleine Rente.
Ich hatte erst ganz kleine. Ich konnte nicht das Altersheim bezahlen.

Die ist jetzt auch noch so klein.
Die Verpflegung nicht bezahlen.

Also weniger als 350 DM …?
Weniger. Ach Gott, ich kann das gar nicht aufzählen. Punkt.

Es sind noch keine 200 DM.
Das ist gar nichts, was ich gekriegt hab.

Dafür hast Du 26 Jahre gearbeitet. Von morgens 6:30 Uhr bis abends um halb neun …
Nein nicht halb neun, es war acht, halb neun.

Und wo?
Im Krankenhaus. Im evangelischen Krankenhaus.

Was haste denn da gemacht?
Gespült, ich war 4 Wochen in der Waschküche, und dann war ich im Esszimmer und Bügelstube.

Und wie gefällt es Dir hier im Altenheim, seit 2 Jahren?
Och, es geht, gut.

Wo haste denn Ärger mit?
Mit allen. Die Irmgard, die alte Tucke, und Ulrich …

Sprecher 1:
Die Ehemänner der Pflegerinnen und Putzfrauen arbeiten zum Teil in denselben Betrieben, in denen die alten Heimbewohner früher Geld verdien­ten: in der Steinkohlenzeche Dinslaken Lohberg und den Fab­riken der Oberhausener und Duisburger Industrie. Viel mehr als das Geld für einen Altenheimplatz wird dort nicht verdient. Jedenfalls nicht von den Arbeitern. Von ihren ehrenhaft gealterten ehemaligen Arbeit­gebern hat noch keiner um Aufnahme nachgesucht; für einen hübschen Altersruhesitz und ein gediegenes Ableben scheinen die Profite gereicht zu haben. Den alten Arbeitern wird ein Lebensabend zweiter Klasse zugemutet, der nach dem eintönigen Reglement des Heimbetriebs abläuft:

Autor:
Um 6:30 Uhr werden die alten Leute geweckt. Bis 8:00 Uhr sitzen die meisten an den Frühstückstischen im Speisesaal. Der Kaffee ist Mucke­fuck, wer genug Geld hat, kann sich Bohnenkaffee kaufen und vom Per­sonal kochen lassen.

Für »die auf dem Zimmer«, das sind im Altenheimjargon die ständig Bettlägerigen, bereiten die Pflegerinnen das Frühstück auf Tabletts. Nach acht beginnen die alten Leute mit dem Zeitvertreib. Manche legen sich gleich wieder ins Bett, andere gehen spazieren oder spielen »Mensch-Ärgere-Dich-Nicht«. Um 12:00 Uhr ist Mittagessen, um zwei Kaffee trinken und um sechs gibt es Abendessen. Ab 16:00 Uhr kann man fernsehen. Gegen 22:00 Uhr ist der Tag für die Alten zu Ende. Alle 14 Tage sonntags gibt es eine Abwechslung: Gottesdienst im Altenheim.

O-Ton Chor:
Was frag ich viel nach Geld und Gut:
was frag ich nach viel Geld und Gut
wenn ich zufrieden bin.
Wenn Gott mir nur gibt gesundes Blut,
so hab ich frohen Sinn.
Und sing aus dankbaren Gemüt
mein Morgen- und mein Abendlied.

Autor:
Die Monotonie ist groß. Es gibt viele Anstrengungen, sie abzu­schaffen. Pflegerinnen versuchen, die Sangeslust mit Singnachmittagen oder die handwerkliche Geschicklichkeit der Alten mit Basteltagen zu fördern. Alte Leute stellen sich tot und warten, bis ein Arzt kommt den Toten­schein auszustellen, um ihn dann in bester Laune die Hand zu schütteln. Sie betätigen listig immer dann die an jedem Bett installierte Rufanlage, wenn sie die Pflegerinnen bei der Mahlzeit wissen. Aber solche Versuche, Abwechslung herzustellen, scheitern, weil die alten Leute wissen: Sie leben in einem Haus, das sie nur gestorben oder sterbend verlassen werden.

O-Ton Rosendahl:
Muttertag 49
Lass mich nur einsam sein und stört mir nicht den schwer erkämpften Frieden.
Nachdem die Wunde kaum verschlossen, kindlicher Unverstand in zügel­losen Wahn erbarmungslos geschlagen.
Nun stellt das Kesseltreiben ein, es war kein fröhlich Jagen.
Das alte Mutterwild liegt eingekesselt, waidwund abgetrieben, suchend die letzte Lagerstätte.
Hätte ich das geahnt, wie das hier ist, dann wäre ich nicht gekommen.

Ist es nicht schön hier?
Nein.

Warum denn nicht?
Haben Sie eben gehört? Die mit dem roten Kleid, böse Frau.

Was hat sie denn gemacht?
Immer schimpfen, immer schimpfen, immer schimpfen. Bbbbbbbbb-bbbbbbbbb.

Und warum? Schimpft die mit Ihnen?
Ich weiß nicht, wenn ich ihr den Willen nicht tu, runter geh oder sonst was. Ich hab nie etwas getan ihr.

Sprecher 1:
Im Durchschnitt der Jahre 1969 und 1970 starb im Dinslakener Alten­heim alle vier Wochen ein Bewohner. Aber das Haus wird nicht leer, die Liste der Voranmeldungen ist lang. Mitunter vergehen nur 2 Stunden, bis das Zimmer eines Verstorbenen und die entsprechende Totenwäsche desinfiziert sind und der nächste einzieht. Früher wurde die beträchtliche Sterbequote den alten Leuten dadurch besonders vergegenwärtigt, dass jeder frisch Verstorbene in der Eingangshalle aufgebahrt wurde. Dann versammelten sich alle und sangen den toten Kollegen ab. Eine sehr fromme, strenge und alte Schwester Amanda, Heimleiterin bis vor vier Jahren, pflegte noch andere Bräuche: jeden Morgen hielt sie eine An­dacht, und Alkoholgenüsse verbot sie nicht nur sich sondern auch den Pflegebefohlenen.

Sprecher 2:
Heute arbeiten im Hiesfelder Altenheim sechs Pflegerinnen, drei Putz­frauen, zwei Küchenhilfen und die Heimleiterin. Die Arbeitszeit beträgt 45 Stunden, die Gehälter liegen zwischen 900 und 1400 DM brutto. Die Putzfrauen – sie arbeiten 30 Wochenstunden – bekommen etwas über 500 DM im Monat. Die Heimleiterin hat den Beruf der Kranken­schwester gelernt. Die Pflegerinnen verfügen nur über eine notdürftige oder gar keine Ausbildung. Das führt mitunter zu Fehlentscheidungen in der medikamentösen Behandlung der Alten.

O-Ton Wilfinger/Pflegerin:
Was soll die Frau Bols mit Limbatril? Die hat doch überhaupt nichts.
Hat die aber früher immer gekriegt, Schwester Birgit.

Nee, die Frau hat nie Limbatril gekriegt.
Hat die aber immer verlangt, diese Kapseln. Hätte sie immer gekriegt, hat sie gesagt und wenn sie sie nicht hat, hat sie drum geschellt.

Die kriegt die aber nicht. Wissen Sie, was Limbatril ist? Ein Nervenbe­ruhigungsmittel.
Na gut, geb ich sie nicht. Ja nun, die ist ja mit den Nerven runter.

Hören Sie mal, das ist ein ganz spezifisches Medikament.
Die ist total mit den Nerven runter.

Natürlich, deshalb können Sie aber kein Limbatril geben, weil das ganz spezifisch wirkt auf bestimmte Nerven. Und Sie wissen doch gar nicht, ob gerade diese Nerven kaputt sind. Dann kann das nämlich Schäden hervorrufen.

Autor:
Schwester Birgit Wilfinger, eine ausgeschlafene Mittzwanzigerin, hat vor zwei Jahren die Heimleitung übernommen. Sie liquidierte die frag-würdi­gen Bräuche ihrer Vorgängerin und bemüht sich, den Heim­betrieb wieder lebendiger zu machen.

O-Ton Autor/Wilfinger:
Frau Wilfinger, Sie leiten seit zwei Jahren das Altenheim in Dinslaken-Hiesfeld, was war Ihr Eindruck, als Sie das Altenheim zum ersten Mal betraten?
Der Eindruck war deprimierend.

Inwiefern?
Ja, es war kein Leben da, sondern es war eine Wartehalle, die Leute saßen herum, warteten nur von einer Mahlzeit auf die andere und taten wirklich gar nichts, saßen einfach da so rum.

Was haben Sie daraufhin zu tun begonnen?
Ich habe versucht den alten Leuten Anregungen zu geben, dass sie wieder etwas zu tun bekommen.

Was für Anregungen?
Ja, zum Beispiel gebastelt, gelesen, gesungen.

Haben Sie Ausflüge veranstaltet?
Ich habe mich unter anderem bemüht, kostenlose Fahrten zu veranstal­ten, damit die alten Leute wieder Kontakt zur Außenwelt bekom­men. Wir haben uns da eigentlich sehr bemüht.

Welchen Erfolg haben Sie gesehen?
Ja, welchen Erfolg habe ich gesehen? Kurzfristig war ein Erfolg da.

Wie sah der aus?
Dass die alten Leute aufgeschlossener wurden, sie waren nicht mehr so deprimiert und bekamen wieder Kontakt zur Außenwelt, sie unterhielten sich und das finde ich ja unheimlich wichtig, dass die alten Leute sich wieder mit jüngeren Leuten unterhalten können, überhaupt mit irgend einem Menschen, der neben ihnen lebt. Aber der Erfolg ist nicht von langer Dauer, glaube ich, denn sobald man nichts mehr tut, sinken sie wieder in ihre alte Gleichgültigkeit, Lethargie.

Sprecher 1:
Auch, wer es besonders gut meint, sieht sich nach kurzer Zeit in einem Altenheim vielen Schwierigkeiten gegenüber. Um alte Leute und ihre Probleme kennen zu lernen, muss man mit ihnen sprechen. Alte Leute sprechen durchweg langsam und oft schwer verständlich. Manchmal eine Folge von zungenlähmenden Schlaganfällen, wird die mangelhafte Artiku­lation verursacht durch schlechte Zahnprothesen oder gar durch die völlige Abwesenheit von Zähnen oder Ersatzinstrumenten. Eine phy­sische Gegebenheit, die den psychologischen Erfolg hat, dass sich alte Leute im Wortsinne genieren, den Mund aufzumachen. Ästhetische Kommu­nikationsschwierigkeiten treten hinzu: in einer Gesellschaft, deren kommerzieller Idolmensch der junge, tatendurstige Konsum- und Zu­kunftsfreund ist, rechnen eigenbrötlerisch und hässlich gewordene Alte von vornherein damit, nicht ohne Abstand, Mitleidigkeit oder gar Ekel betrachtet zu werden. Sie tun das erst recht im Altenheim, wo sie jeder Mitbewohner jeden Tag an die Hässlichkeit der eigenen alten Person erinnert.

Schließlich: alte Menschen vertauschen im Gespräch häufig nicht nur einzelne Wörter, sondern ganze Sätze, sprachliche Sinnzusammenhänge und deren Verhältnis zur Realität.

Autor:
Eine alte Dame klagte mir eines Morgens, das Radio habe am Abend so laut gespielt, ihre Ohren bereiteten ihr daher große Schmerzen. Sie müsse also unbedingt zum Augenarzt. Als ich ihr sagte, wenn sie Ohren­schmerzen habe, solle sie doch besser zum Ohrenarzt gehen, entgegnete sie ungeduldig, genau das wolle sie ja, aber die Ohren schmerz­ten gar nicht, sondern die Augen. Plötzlich fing sie an zu weinen und sagte: »Ich habe alle Wörter vergessen.« Sie war zwar in der Lage, die Tatsache ihrer Verwirrung zu erkennen und darüber zu weinen, diese Tatsache zu ändern vermochte sie indessen nicht. Nur durch Fragen an Mitbewohner war herauszubekommen, dass der alten Dame keineswegs ein Radio in die Ohren geplärrt hatte. Sie war vielmehr, weil sie schlecht sieht, zu nah an den Fernsehapparat gerückt und hatte davon Au­genschmerzen.

Sprecher 2:
Altersschwachsinn sagt man dazu üblicherweise.

Sprecher 1:
Der russische Schriftsteller Jurij Olescha beschrieb die Bewusstseinsreduk­tion im Alter in Teilen seiner Kurzgeschichte Ljompa.

Sprecher 2:
»Mit jedem Tag verringerte sich die Zahl der Dinge. Ein so vertrautes Ding wie eine Eisenbahnfahrkarte war für den alten Ponomarjow schon unerreichbar fern. Zuerst hatte sich die Zahl der Dinge in einem weiteren Bereich verringert, dann näherte sich die Verringerung immer schneller dem Zentrum, ihm, dem Herzen – sie kam in den Hof, ins Haus, in den Korridor, ins Zimmer.

Anfangs hatte das Verschwinden der Dinge ihm keinen Kummer berei­tet. Sie entglitten eben in dem Maße, in dem er älter wurde. Der echte Schmerz kam, als ihm klar wurde, dass auch diejenigen Dinge von ihm wegzurücken begannen, die er stets um sich gehabt hatte. An einem einzigen Tag verließen ihn so: die Straße, der Dienst, die Post, die Pferde.

›Ich glaubte, es gäbe keine Welt da draußen‹, grübelte er, ›ich glaubte, mein Auge und mein Ohr seien Herren über die Dinge, ich glaubte, mein Verstand hätte ihnen Form, Gewicht und Farbe gegeben – doch sie sind von mir fortgegangen, und nur ihre Namen – sinnlose, herrenlose Namen – rumoren in meinem Hirn. Was soll ich aber mit diesem Namen?‹

Eine Ratte war in die Küche eingedrungen. Der alte Ponomarjow lauschte: die Rate wirtschaftet, klappert mit Tellern, öffnet den Hahn, raschelt im Eimer. ›Aha sie ist Geschirrwäscherin‹, dachte Ponomarjow.«

Autor:
Adam Rother ist ein rüstiger Rentner, richtiger Trinker und seit sechs Jahren im Altenheim. Manchmal überschätzt er seine Trinkfestigkeit; das büßt er dann meist mit einem langen und trockenen Krankenhau­saufenthalt. Er ist entmündigt, sein Vormund zahlt ihm 100 DM Taschen­geld monatlich. Als ich ihn interviewte, lag er auf seinem Bett und dachte an die Vorzüge des Alkohols und die Vergänglichkeit des Geldes.

O-Ton Autor/Rother:
Sie sind doch entmündigt worden, oder nicht?
Ja, das war vorher gewesen. Das war durch Ärger gekommen.

Wie denn, weswegen denn?
Ja wegen …

Wegen Schnaps?
Ja, wegen Geld halt.

Wie, wegen Geld?
Wegen Geld halt. Die Frau wollte das ganze Geld weg haben und die hatte drei Kinder.

Ihre Kinder?
Nee, ihre. Nicht meine, ihre. Und meine waren dagegen, und dann hat sie so lange gedreht und hat geprozesst und hat mich dahin gebracht. Und meine Kinder, die haben wieder so viel gedreht mit Rechtsanwälten und sind hingegangen und haben mich sofort rausgeholt, von da.

Von wo?
Von, aus dem Heim da. Hier im Keller.

In Brauweiler?
Brauweiler, ja.

Ist ne Trinkerheilanstalt, nicht?
Ja, und dann ging ich sofort wieder mit den Kindern nach Hause und dann habe ich gearbeitet, oh, eine lange Zeit hab ich noch gearbeitet, jahrelang hab ich noch gearbeitet. Ja und dann weiter, dann kam es so weit hin, dass es immer so dichter zusammenkam und langsam hat sich das geschlossen. Und dann ging ich im Ganzen hierher.

Möchten Sie gerne hier noch irgendetwas zu tun haben?
Nein, nix mehr.

Autor:
Maria Rosendahl hat seit knapp zwei Jahren das Altenheim nicht mehr verlassen. Sie ist faltig, von weißblauer Gesichtsfarbe und trägt noch denselben Pelz wie vor 20 oder 40 Jahren. Nach dem Ersten Welt­krieg war sie Dinslakens femme fatale. Heute verliert sie Speichel beim Sprechen.

O-Ton Autor/Rosendahl:
Sie hatten doch früher immer viele Kavaliere?
Nie! Hören Sie, mir hat nie ein Mann gefallen. Wissen Sie was das heißt: frigid, frigid, wissen Sie das? Ich bin völlig kalt gegen die Männer, ja wirklich, wirklich.

Wie kommt das denn?
Das ist angeboren, angeboren.

Und Ihrem eigenen Mann gegenüber auch?
War älter als ich, zwölf Jahre älter. In Dinslaken im Hotel waren Ver­wandte von mir, und dabei Kirmes und da ging ich mit meinem Bruder hin und da lernte ich meinen Mann kennen und der war direkt verliebt, direkt verliebt.

Und Sie?
Ich? Ach, frigid, kalt, kalt, und am anderen Tage kam er schon zu uns, weil er meinen Bruder kannte und da liefen wir immer aus den Zimmern und mussten über den lachen, meine Schwestern und ich. Aber er war verliebt, nichts zu machen, nichts zu machen.

Und warum haben Sie ihn geheiratet?
Warum, ich, in einem Tag, eine gute Partie, warum denn nicht? Ein­mal muss man doch, ja, darum.

Wie sind Sie denn mit dem zurecht gekommen, wenn Sie so frigid waren?
Ja ganz gut, er war friedlich und ich auch, wir verstanden uns.

Hatten Sie denn auch ein gutes Sexualleben?
Oh ja, oh ja, oh ja. Er war den ganzen Tag am Karten spielen, den gan­zen Tag. Ja, und mittags war’s ruhig, von zweieinhalb bis drei unge­fähr.

Sie haben doch hier einen Verehrer?
Ach.

Der küsst Ihnen immer die Hände, ein ganz galanter Mann.
Ach.

Der ist drei Jahre jünger als Sie.
Ach, der ist ja ein bisschen …, nicht, hier oben, ist ja nicht ganz klar, ist wirklich nicht ganz klar.

Aber Sie lassen sich von ihm bedienen?
An der Hand führen, bleibt mir nichts anderes übrig, ich schleppe mich dahin, er schleppt mich dahin, und die anderen ärgern sich darüber, eifersüchtig. Ach, ist ja albern, albern, man weiß gar nicht, was man dazu sagen soll.

Autor:
Je länger man mit alten Leuten lebt, je mehr man von ihnen erfährt, desto schwerer wird es, Verallgemeinerndes über ihre Lage im Heim zu sagen.

Sprecher 1:
Ihre Gedanken und Erzählungen bewegen sich selten in der Gegen­wart des Heimalltags. Ihre Themen sind vielmehr: eine glückliche Jugend und das während eines langen Lebens vermeintlich oder tatsächlich erlit­tene Unrecht. Unrecht, das Behörden schufen oder Familienangehörige. Die Erfahrungen eines meist 40-jährigen Arbeitslebens werden von den Alten selten zur Sprache gebracht.

Autor:
Sie sind froh, das hinter sich zu haben. Sie wollen in Ruhe gelassen werden. Die wenigsten im Heim drängen sich nach irgendeiner produk­tiven Beschäftigung. Und trotzdem hassen sie das Gefühl, zu nichts und von niemandem mehr gebraucht zu werden.

Sprecher 1:
Solange sie in der Produktion benutzt werden konnten, wurde zumin­d­est dafür gesorgt, dass sie bei Laune blieben. Ausgeschieden aus der Gesellschaft der Aktiven, sind sie bis zu ihrem Tod in ein Vakuum geraten, dass die Heimleitung recht und schlecht zu verwalten sucht. Es verhungert niemand im Altenheim und Unterhaltungsmöglichkeiten in sehr bescheidenem Maße sind bereitgestellt. Für einen menschenwürdi­gen Lebensabend reicht das kaum aus. Opposition gegen Leerlauf und Eintönigkeit wird von den alten Leuten nicht vorgebracht. Es gibt keine kritische Basisgruppe Altenheim. Das liegt daran, dass viele Alte mangels anderer Erfahrungen zufrieden sind mit dem, was ihnen geboten wird. Der organisierte Widerstand der Pensionäre wäre auch zwecklos, denn er würde niemanden treffen. Es wäre Aufgabe der gesellschaftlichen Institu­tionen, dafür zu sorgen, dass aus einem trüben Warten auf den Tod eine abwechslungsreiche Erholung nach jahrzehntelanger Arbeit wird. Der Gesetzgeber erweist sich angesichts dieser Probleme bisher als ratlos:

Sprecher 2:
»Bundessozialhilfegesetz, Unterabschnitt 13, § 75:
(1) Alten Menschen soll … Altenhilfe gewährt werden. Sie soll dazu beitra­gen, Schwierigkeiten, die durch das Alter entstehen, zu überwinden und Vereinsamung im Alter zu verhüten.
(2) Als Maßnahmen der Hilfe kommen in vertretbarem Umfang vor al­lem in Betracht:
Erstens Hilfe zu einer Tätigkeit des alten Menschen, wenn sie von ihm erstrebt wird und in seinem Interesse liegt,
zweitens Hilfe bei der Beschaffung von Wohnungen, die den Bedürfnis­sen alter Menschen entsprechen …
drittens Hilfe zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder den kulturellen Bedürfnissen alter Menschen dienen …«

Sprecher 1:
Und so weiter. Kein Wort über alte Heimbewohner. Die Halbverbindlich­keit der im § 75 niedergelegten Sollvorschriften wird dadurch zusätzlich abgeschwächt, dass sie laut Gesetz nur »in Betracht kommen«, und selbst dies nur »in vertretbarem Umfang«. Nach dem Bundessozialhilfegesetz haben alte Menschen nur einen Anspruch auf die eigentliche Sozialhilfe, also auf die Gewährleistung ihres Lebens­un­terhaltes. Der Betrieb von Altenheimen ist gesetzlich auf Landesebene geregelt. Für Nordrhein-Westfalen in der »Heimverordnung« vom 25. Februar 1969. Sie beschäftigt sich aber keineswegs mit den alten Heimbe­wohnern. Ihren 16 Paragrafen sind nur ein paar Anweisungen über Buchfüh­rung und sogenannte Mindestanforderungen an die Beschäftig­ten und an die Räume zu entnehmen.

Sprecher 2:
»§ 8 Eignung und Zahl der Beschäftigten

  1. Der Gewerbetreibende darf nur Personen beschäftigen, die die für ihre Tätigkeit erforderliche Zuverlässigkeit besitzen.
  2. Die Zahl der in Altenheimen und Pflegeheimen Beschäftigten muss so bemessen sein, dass eine den Alters- und Pflegebedürfnissen der Heimbe­wohner entsprechende Betreuung und Versorgung, auch wäh­rend der Nacht, gewährleistet ist.
  3. Pflegeheime müssen für bis zu jeweils 15 Heimbewohner über mindes­tens eine in der Pflege ausgebildete oder besonders erfahrene Kraft verfügen. Das gilt auch für Altenheime, soweit darin pflegebe­dürftige Heimbewohner untergebracht sind.«

Ein verlegenes Gesetz. Es muss so pauschal »Alters- und Pflegebedürf­nisse« sagen, weil der Gesetzgeber weder die einen noch die ande­ren konkret kennt. Es muss so pauschal von »in der Pflege ausge­bilde­ten oder besonders erfahrenen Kräften« sprechen, weil es den Beruf der ausgebil­deten Altenpflegerin praktisch nicht gibt. Mehr als schüchterne Versuche von Seiten der freien Wohlfahrtsverbände, ihn zu etablieren, hat man nicht. Auf diesem schwankenden Boden unvollstän­diger und ungenauer gesetzlicher Regelungen haben es auch die schwer, die sich von Berufs wegen mit alten Leuten zu beschäftigen haben.

O-Ton Autor/Dümmen:
Frau Dümmen, Sie sind Ortsvorsitzende und Kreisvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt in Dinslaken. Was tun Sie für die alten Leute?
Ja, wir kümmern uns ja schon lange um die alten Leute. Vor allen Dingen haben wir Altentagesstätten eingerichtet. Wir haben in Dinslaken sieben Altentagesstätten an verschiedenen Orten, sodass die Leute immer die Tagesstätten gut erreichen können. Vor allem sorgen wir dann auch dafür, dass in den Tagesstätten viel Fröhlichkeit herrscht.

Wie machen Sie das?
Ja erst mal überlassen wir die alten Leute auch etwas sich selbst, sie bilden auch selbst ein Programm. Verschiedentlich veranstalten wir auch nette Nachmittage. Wir veranstalten auch Ganztagsfahrten, die Stadt finanziert uns auch mal eine Halbtagsfahrt. Wir sind auch der Meinung: bei alten Leuten sollte man auch viel mehr Fröhlichkeit sein und viel mehr Feste feiern.

O-Ton: Fröhliches Lachen und Reden im Altenheim

Sprecher 2:
Helmut Termat ist Leiter des Kreissozialamtes Dinslaken.

O-Ton Termat:
Die soziale Sicherheit, das ist ja ein viel zitierter Begriff, und würde sicher­lich Daseinsbewältigung bedeuten, und gilt sicherlich in verstärktem Maße für die älteren Menschen. Innerhalb der Leistungsgesellschaft wird der alte Mensch bedauerlicherweise – und ich halte das für ein Vorurteil –, das auch nicht gerechtfertigt ist, oft abgewertet, weil ja der alte Mensch oder ältere Mensch, nicht mehr berufstätig ist und insofern nicht mehr der Leistungsgesellschaft als Leistender angehört. Obwohl bekannt ist, dass Altern nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein psychologisches und soziologische Problem ist, gilt es doch auch in dieser Lebensphase, in der wir ja alle eines Tages mal stehen, Rechnung zu tragen und zwar auch seitens der öffentlichen Hand und seitens der Gesellschaft, die ja auch die Verpflichtung für unsere älteren Menschen hat. Ich habe ja schon angedeutet, dass es nicht nur ein medizinisches Problem ist, alt zu werden, obwohl ja die Lebenserwartung heute sehr weitgehend ist, die Lebenserwartung wird nach allgemeiner Feststellung auf etwa 69 Jahren zur Zeit abgestellt.

Sprecher 1:
Die Gutwilligkeit ist groß, die Mittel sind gering. Allerdings: Wer über alte Leute und speziell über Altenheime spricht, kann sich auf keine Litera­tur stützen. Kaum eine Erscheinung beschäftigt die Öffentlichkeit so wenig wie das Alter. Für die Heranbildung von Pädagogen gibt es ganze Hochschulen, über die Kriminalität gibt es eine, wenn auch unter-entwickelte, so doch etablierte Wissenschaft. Über das Leben im Alten­heim gibt es kaum Brauchbares. Fachzeitschriften, wie etwa das im Hanno­veraner Vinzenz-Verlag erscheinende Monatsheft Das Altenheim werben in der Hauptsache für sklerosegerechte Bettgestelle; im theo­reti­schen Teil sind Bastelanleitungen abgedruckt.

Autor:
Das Alter ist unattraktiv, nicht zuletzt für die Wirtschaft. Vor einiger Zeit lautstark angekündigte Kampagnen um die Kaufkraft der Alten sind fast eingeschlafen. Es lohnt sich offensichtlich nicht. In einem ist sich die Gesellschaft der Leistenden einig: Vor dem Alter hat man Angst. Auch die Heimbewohner von Dinslaken fürchten sich manchmal vor dem Alter. Bis sie merken, dass sie schon längst alt sind. Dann spekulieren sie über ihre allerletzte Zukunft, den Tod.

O-Ton Autor/Klever:
Frau Klever, haben sie Angst vor dem Tod?
Ich, nein, ich sterb gern. Ich habe ja nichts mehr auf der Welt. Wat soll isch denn noch hier? Wat soll isch denn auf der Welt noch? Bloß für dat Ende abzuwarten, wär dat schrecklisch. Das tue ich nicht. Ich weiß bloß noch kein richtiges Sterbemittel, wo keiner was merkt, dat isch direkt weg bin, da geht es drum, da warte ich noch drauf. Aber das finde ich auch. Ich habe wohl ein Mittel, aber das ist das richtige nicht.

O-Ton Autor/Rosendahl:
Sie sind nicht gerne alt?
Nein, möchte jetzt sterben!

Haben Sie keine Angst zu sterben?
Ich denk immer, ich krieg den Schlag, Bums, hab schon vier Schläge gehabt. Vier Mal einen Schlaganfall. Und der fünfte bringt mich um. Hat man denn Angst? Ich werde doch nach Düsseldorf geholt, mit dem Auto.

Von wem denn?
Die Herren Direktoren, wo die Ärzte studieren, die schneiden die Leiche auf. Ob man in die Erde gescharrt wird, ist ja auch nicht schön.

O-Ton Autor/Hopf:
Hast Du Angst zu sterben?
Was, sterben, vor dem Sterben hat jeder Angst. Jeder Mensch hat Angst vor dem Sterben. Jeder Mensch, jedes Tier und wenn es der Wurm in der Erde ist, hat Angst vor dem Sterben.

Meinst Du es kommt noch etwas nach dem Tod?
Ja, man hat schon viel darüber nachgedacht. Es kann sein, es muss sein, wenn man das Ding so überlegt. Da kämen wir hinaus auf ein Muss. Ja, es muss etwas geben.

Und was?
Was? Und was? Ein Herrgott. Da sagen sie immer, es gibt keinen Herrgott. Aber dann kommst du auf eine Stelle, wo du nicht anders kannst, du musst sagen, es gibt einen. Es gibt einen und es gibt auch wieder keinen. Wenn es einen geben täte, dann wäre doch kein Krieg.

O-Ton Autor/Scholz:
Haben Sie Angst vor dem Tod?
Nein, davor habe ich keine Angst. Tod, hab ich keine Angst. Warum das denn? Nein, Angst hab ich nicht. So bin ich ja auch noch rüstig, bloß meine Beine können nicht mehr. Was denken Sie denn, was da kommt? Was dann kommt? Weiß ich nicht. Was soll ich denn denken? Gar nichts. Wie es kommt, so kommt’s. Wir können ja doch nichts aufhalten. Aber nach dem Tod? Nach dem Tod, da kommt gar nichts, da bin ich weg. Es ist noch keiner auferstanden. Ich möchte nicht so lange liegen, habe ich nichts mehr vom Leben, dann möchte ich doch lieber sterben.

O-Ton Autor/Rother:
Was erwarten Sie denn noch vom Leben?
Was ich noch erwarte vom Leben? Ich erwarte noch, vom Leben erwarte ich noch den Tod … Sonst nichts, nein.

Sprecher 1:
Die alten Leute sind dem Tode nahe. Nicht täglich, aber doch re­gel­mäßig erleben sie, wie Menschen, mit denen sie zusammen leben, ster­ben. Menschen, die genauso alt, krank, gebrechlich und müde sind, wie sie selbst. Das alles erklärt die weitgehende Abwesenheit von Todesangst, die verbreiteten Wünsche nach einem schnellen Lebensende nicht. Andere Erfahrungen im Heim spielen eine Rolle: Einsamkeit, Langeweile und das Gefühl unwiderruflich auf ein Abstellgleis geraten zu sein.

Vielleicht dämmert einigen Alten der Verdacht, dass es nicht nur das Heim ist und ihre körperliche Verfassung, was das Leben so lästig er­scheinen lässt. Vielleicht erinnern sie sich, dass das auch früher schon so gewesen ist, dass sie betrogen worden sind. Durch zwei Weltkriege, die sie nicht verschuldet, deren Folgen sie aber, so oder so, zu tragen hatten. Mit dem Tod ihrer Familienangehörigen, der Vertreibung aus ihrer Heimat, mit Gefangenschaft, mit Arbeitslosigkeit und Hunger.

Sprecher 2:
Was war sonst? Die alten Herren: 20 Jahre schlicht und schlecht er­zo­gen, 40 Jahre harte Arbeit, wenn mal nicht gerade Krieg oder Arbeitslosig­keit war. Zweck und Sinn der Arbeit: Geld und Essen, Existen­z­erhaltung. Freizeitbeschäftigung: Beischlaf und Bier. Und das nicht, weil der Verstand nicht mehr ermöglicht hätte, sondern weil die Kraft zu ger­ing war nach der Arbeit. Die alten Damen: 20 Jahre noch schlichter und schlechter erzogen als ihre Männer. 40 Jahre mit Pfen­nigen gefuchst. Freizeitbeschäftigung: Beischlaf und etwas Tratsch.

Sprecher 1:
Arbeit und Pfennigfuchsen haben den alten Herren und Damen nichts genutzt, ebenso wenig wie der Krieg. Übrig geblieben ist eine Rente, die meist nicht einmal ausreicht, sich einmal im Monat richtig zu besaufen. Übrig geblieben ist ein Leben in einem Altersheim mit Blick auf den Bahndamm. Wenn die alten Herren sterben, werden in einigen lokalen Tageszeitungen Todesanzeigen erscheinen, bezahlt von den Firmen, denen die alten Herren früher ihre Arbeitskraft zur Verfügung gestellt haben. Der letzte Satz in solchen Anzeigen heißt: Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

Autor:
Die Wahrheit ist, dass die Bewohner des Altenheims schon zu ihren Leb­zeiten vergessen sind. Das kann in einer Gesellschaft, in der trotz aller ge­genteiliger Beteuerungen nicht Menschen, sondern Leistung und Profit im Mittelpunkt stehen, nicht anders sein. Deshalb werden alte Leute nicht nur vergessen. Sie werden in Heimen versteckt, die, selbst wenn sie gut ausgestattet und landschaftlich reizvoll gelegen sind, ihre Bewohner gelegentlich an Gefängnisse erinnern. Natürlich dürfen sich die Alten, sofern sie gesund sind, frei bewegen. Aber wohin soll’s gehen? Nicht nur das Altenheim Dinslaken wurde weit entfernt vom Stadtzentrum gebaut. Den Weg mit dem Bus in die Stadt kann sich nur leisten, wer eine über­durchschnittliche Rente hat. Den anderen bleiben, wenn sie unter Men­schen wollen, ein paar nahe gelegene Kneipen. Besonders gern gese­hene Gäste sind sie dort nicht.

Sprecher 1:
Denn alte Leute, seien sie kerngesund oder gebrechlich, geistig rege oder schon etwas durcheinander, erinnern an den Tod. Das ist am schlimm­sten: der Tod. Der Tod aus Altersgründen ist unbrauchbar, für die Produktion ebenso wie für den Fortschritt, für den Kapitalismus genauso wie für den Sozialismus. Rentnern in den kommunistischen Staaten Osteuropas geht es nicht besser als den gleichaltrigen hierzu­lande. Die Verlassenheit alter Leute ist nicht allein mit den Unzulänglich­keiten politischer Systeme erklärbar.

Autor:
Was ist zu tun? Das Warten auf eine gesellschaftliche Ordnung, die den Zwang endlos zu produzieren und zu konsumieren, abschafft, nützt den Alten wenig. Vorerst könnte es helfen, wenn die Forschung über das Leben im Alter verstärkt würde. Es ließen sich Erkenntnisse darüber gewin­nen, wie man Altenheime besser ausrüsten und organisieren könnte, ob es nicht andere und vielleicht bessere Formen für das Wohnen im Alter gibt. Die Ausbildung für das Pflegepersonal muss wesentlich verbessert werden. Ein langes Berufsleben in der Abhängigkeit hat die Männer und Frauen im Rentenalter fast ausnahmslos jeglicher Selbst­stän­dig­keit und Kreativität beraubt. Es scheint nicht unmöglich, ihnen davon im Alter wenigstens ein Stück zurückzugeben.

All das würde von den Institutionen dieses Staates und von seinen Bür­gern verlangen, die Alten und das Alter nicht aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen. Das Alter ist die unausweichliche Zukunft jedes einzelnen. Sich für die Verbesserung der Situation alter Leute engagieren heißt: sich um seine eigene Zukunft kümmern. Wer alt ist, kann sich nicht mehr selber helfen.

Nur wenn sich solche Einsichten durchsetzen, ist es denkbar, dass alte Leute nicht so verlassen leben und so interesselos verscharrt werden wie der frühere Bewohner des Altenheims Dinslaken, Emil Wiebus. Seinem Sarg trotteten im März 1970 zwei Pflegerinnen des Heims, zwei Mitbewoh­ner und der Begräbnisunternehmer hinterher. Sein Alter und sein Tod hätten eine andere Bedeutung, wenn in seinem Leben nicht seine Arbeit und sein Beitrag zur Produktion, sondern er selbst gezählt hätte.

Ende

 

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