Warum es sich lohnt, hundert zu werden
Gastbeitrag von Paula Scholemann*
1. Edgar Morin, 99
Wechseln wir das Gleis – »Changeons de Voie« – heißt das diesen Sommer erschienene Buch mit dem Untertitel »Die Lehren des Coronavirus«**. Auf dem Cover ein Porträt des sympathisch lächelnden Autors mit offenem Hemdkragen und Seidenschal – der Philosoph Edgar Morin, Jahrgang 1921, Träger von 38 Ehren-Doktortiteln, mehr als 60 Bücher.
Das Vorwort allein ist die Lektüre wert: Ein Stück autobiographischer Literatur, das es in sich hat: Acht superkurze Essays. Auf knapp 20 Seiten erzählt Edgar Morin aus seinem Leben: 99 Jahre. Es beginnt mit der Geburt, 1921, also wenige Jahre nach der Spanischen Grippe:
»Ich bin ein Opfer der Epidemie der Spanischen Grippe, und zwar bin ich ihretwegen tot, also tot geboren, und wurde durch die unerlässlichen Ohrfeigen des Gynäkologen wiederbelebt, der mich 30 Minuten lang an den Füßen haltend kopfüber hängen ließ.« (S. 7)
Das eigentliche Opfer der Totgeburt war Edgar Morins Mutter. Sie war 1917 an der Spanischen Grippe erkrankt und litt an Spätfolgen in Gestalt eines schweren Herzfehlers.
»Gegen Ende des Frühlings 1931 (…) beeilte sie sich eines morgens, um ihren Zug aus dem Vorort nach Paris nicht zu verpassen. Sie erwischte ihn knapp. Sie setzte sich, schien einzuschlafen und wachte nie wieder auf. Man fand sie so im Bahnhof Saint-Lazare.« (S. 9)
Die »préambule« trägt den Titel »Hundert Jahre Unbeständigkeit« und sie ist zugleich rührend und verstörend. Zwanzig Seiten voller Lebenskrisen und doch immer neue Anfänge. Die Spanische Grippe und ihre Folgen, dann: Weltwirtschaftskrise, Hitlers Machtübernahme, Weltkrieg, die intellektuelle Krise angesichts des Stalinismus, Studentenrevolte und Ökologie.
Am Ende des Vorworts sagt Morin: »Schließlich bin ich das Kind all dieser Krisen.« Mit 99 Jahren sieht sich der Philosoph noch einmal an einem neuen Anfang stehen. Und macht Pläne für die Zukunft, für die Zukunft seines Landes, für die Zukunft der Menschlichkeit auf diesem Planeten.
2. Changeons de Voie
150 Seiten, drei Kapitel: 15 Lehren aus der Corona-Epidemie, 9 Herausforderungen und 5 Wege zur Veränderung. Diese Methode wirkt zwar ein wenig starr und gekünstelt. Sie hat jedoch einen unschätzbaren Wert: Die simple Form macht das Komplexe zugänglich. Die Philosophie ist lesbar und das Denken verständlich.
Das erste Kapitel und die 15 Lehren des Corona-Virus: Wie lebst Du? Woran sterben wir? Wie gerecht ist unsere Gesellschaft? Diese und andere Fragen, sagt Morin, stellen sich neu und anders nach Corona und den Erfahrungen des »confinement«: Anders als wir Deutschen, die vom »Lockdown« sprechen, vielleicht, um nicht ganz so deutlich zu spüren, dass wir uns einsperren wie Gefangene mit begrenztem Freigang, haben die Franzosen ein französisches Wort für das bisher einzige wirksame Mittel zur Kontaktreduzierung: »confinement« kommt von confiner – eingrenzen, einsperren. Und die großen gesellschaftlichen Fragen, sagt Morin, beantworten wir mit dieser Erfahrung anders.
Durch das Eingesperrtsein haben wir ein neues Zeitgefühl gewonnen, wir hecheln nicht im Rhythmus der Arbeit, sondern nehmen uns Zeit für Spaziergänge und ausgedehnte Essen mit der Familie. Die Schwächen der Sparpolitik sind in der Krise deutlich geworden, als Mangel an Masken und Krankenhauspersonal herrschte. Die Krise öffnet den Blick für notwendige Reformen. Werden wir uns die Lehren aus Corona tatsächlich zu Herzen nehmen und etwas ändern?
Morin zeigt im zweiten Kapitel, dass es gute Gründe für Veränderungen gibt: Politische Reformen sind nötig, um die Demokratie zu erhalten, es braucht Solidarität mit den Armen und das digitale Zeitalter verlangt nach neuen Lösungen, die Frage der Ökologie stellt sich weiterhin und die akute Gefahr eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs besteht obendrein. »Es ist lebenswichtig, jetzt das Gleis zu wechseln« (S. 80), schreibt Morin am Ende des zweiten Kapitels.
3. Widersprüche und Dynamik
Morin entwirft mit dem Gleiswechsel eine neue Ordnung. Er denkt in Dichotomien und sieht deren Extreme nicht als Widersprüche und unauflösbare Dilemmata an, sondern als Gelegenheit. Aus der Spannung zwischen den Polen lässt sich Dynamik erzeugen – zwischen Wachstum und Drosslung zum Beispiel:
»Bemerkenswert ist, dass es überall auf der Welt, auch in Frankreich, eine Unterproduktion von notwendigen Produkten gibt, deren Wachstum man fördern muss, und eine Überproduktion an überflüssigen Produkten, deren Drosslung man befördern muss.« (S. 86)
Edgar Morin macht konkrete Vorschläge für die Politik: Einen green deal fordert er, mit dem Städte konsequent fußgängertauglich gemacht werden und Flüge von weniger als 1500 km durch Schienenverkehr ersetzt werden. Er fordert die Förderung von Orten, an denen das wirkliche Leben (»la vraie vie«) stattfindet: Spiele- und Freizeitclubs, Orte der Entspannung und Geselligkeit.
Neben den bestehenden und wichtigen Instanzen der parlamentarischen Demokratie schlägt er die Entwicklung neuer Mittel demokratischer Teilhabe vor.
»Auf nationaler Ebene: ein Rat für Ökologie, bestehend aus Wissenschaftlern, per Losverfahren ausgewählten Bürgern und Vertretern des Staates, könnte die Möglichkeiten großer ökologischer und sozialer Reformen prüfen und vorschlagen.« (S. 96)
Eine verrückte Utopie? Können wir uns vorstellen, dass in irgendwelchen Auto-, Kohle-, Flüchtlings-, Religions-, Gesundheits- und Pandemie-Gipfeln durch Los ausgesuchte ganz normale Bürger sitzen und mitreden? Morin bezieht sich mit diesem Vorschlag auf ein Experiment, das in Frankreich bereits begonnen hat. Es gibt seit 2019 eine Bürger-Versammlung für das Klima, in der 150 per Losverfahren gezogene Bürgerinnen und Bürger 149 konkrete Vorschläge für die Klima-Politik erarbeitet haben.
* Dr. rer. pol. Paula Scholemann lebt als Autorin und Beraterin in Montalivet (Nouvelle-Aquitaine), wo sie ein Büro für Kreativität, Didaktik und Politik betreibt. Zuletzt erschienen: »Kreativität und Visionen bei politischen Projekten – Ein Transfer aus der Kreativitätsforschung in die Politische Theorie« (Springer VS März 2020).
** Edgar Morin: Changeons de Voie – Les leçons du Coronavirus, Juni 2020, edition Denoel, 147 Seiten, Taschenbuch, 14, 90 Euro