Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Einige Bemerkungen über das neu aufgelegte Buch der Weimarer Autorin Juliane Karwath (01.01.22)
Vor wenigen Wochen erschien im Coesfelder Elsinor-Verlag die Erzählung »Die Abenteuer des Müllers Crispin«. Geschrieben hat sie Juliane Karwath, die 1877 in Straßburg geboren wurde und lange Jahre als Lehrerin und Schriftstellerin in Weimar lebte.
Das Buch erzählt aus dem Leben eines jungen Müllers. Junge Müller erlebten früher bekanntlich viel, das Wandern war ihre Lust und bei Ausübung dieser Lust gerieten sie – was ja auch ihrer Absicht entsprach – in fremde, traumhafte Gegenden, lernten junge Mädchen kennen und verirrten sich oft in wunderliche und/oder gefährliche Lebenslagen. So geht es auch Juliane Karwaths Müller Crispin. Er hat mit Wölfen zu tun und mit Werwölfen, mit der schönen Eva-Maria, mit der heiligen Walpurgis, einem Bärenführer, einem wagemutigen Schatzsucher, wilden Schießereien und vor allem mit dem wunderlichen Martin Pumphut, der durch die Lande zieht und geizige Müllermeister bestraft, indem er ihre Mühlbäche »stehen lässt«. Es tut sich eine Welt voller Überraschungen auf, fast nichts endet so, wie man es erwartet, man kommt aus dem Staunen nicht heraus beim Lesen, fragt sich oft genug, ob man in einen Traum oder eine Sage geraten ist, und schon geht es hinter der nächsten Böschung wieder ganz realistisch weiter. Wahr und Falsch, Gut und Böse sind schwer voneinander zu unterscheiden. Nur eines ist sicher: Die Geschichte vom Müller geht gut aus, Crispin bekommt eine schöne Müllerin, wenn auch erst ganz am Schluss. Oder ist auch das wieder nur eitler Schein? Gibt es überhaupt so etwas wie Wahrheit und Wirklichkeit in der Literatur? Wir können Crispin nicht fragen, denn er existiert ja nur innerhalb des Buches und selbst da weiß er kaum, wer er ist. Auch Juliane Karwath können wir nicht mehr fragen, denn sie starb 1931 in Oberweimar, wo sie in den beiden letzten Jahren ihres Lebens wohnte.
Wiederentdeckt wurde das seit einem knappen Jahrhundert vergessene Buch, das so meisterhaft mit unserer Phantasie spielt, von Martin A. Völker. Er lebt als Schriftsteller und Literaturarchäologe in Berlin und hat dem Buch ein hochinteressantes Nachwort hinzugefügt: »Über das Als-Ob in der Literatur«. Völker nimmt damit Überlegungen des Philosophen Hans Vaihinger (1852–1933) auf, der, vereinfacht gesprochen, den vielfältigen Nutzen von Fiktionen für Denken und Leben untersucht hat. Gerade in diesen Wochen und Monaten, in denen Politik, Medien und Gesellschaft ganz unterschiedliche Welten aus algorithmisierten Prognosen und Verschwörungsszenarien zu bauen versuchen, erleben wir, dass nicht nur die literarische, sondern auch die »wirkliche« Wirklichkeit viel Ähnlichkeit mit Fiktionen hat, gebaut auch aus Angst, Hoffnung und Zahlen.
Unterm Strich: Ein skurriles Märchen mit überraschendem Tiefgang!
Juliane Karwath: Die Abenteuer des Müllers Crispin. Herausgegeben von Martin A. Völker. Elsinor Verlag Coesfeld. 1. Aufl. 2022. Broschiert. 160 Seiten. 16,00 €. ISBN 978 – 3 – 942788 – 58 – 8