Wiedergelesen: Ein Kriegsroman von Saša Stanišić (01.10.22)
Gastbeitrag von Ulrike Brune
„Wie der Soldat das Grammophon repariert“ heißt der faszinierende, 2006 erschienene Debutroman des damals gerade 28-jährigen Saša Stanišić. Die Handlung spielt in Stanišićs bosnischem Geburtsort Višegrad an der Drina. Die sie überspannende steinerne Bogenbrücke, über deren Bau Ivo Andrić seinen berühmten Roman geschrieben hat, spielt auch bei Stanišić eine Hauptrolle.
Višegrad, so hat es das UN-Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien formuliert, war 1992 „einer der umfassendsten und skrupellosesten Kampagnen ethnischer Säuberung im bosnischen Konflikt ausgesetzt.“ Um den Beginn dieses Genozids geht es in „Wie der Soldat das Grammophon repariert“. Erzählt wird aus der Sicht des 14-jährigen Aleksandar. Dessen überbordende Fantasie und seine fast anarchische Bildersprache machen das schreckliche Kriegsgeschehen nicht besser, aber sie fügen ihm eine Dimension der Hoffnung hinzu.
Aleksandar wird inmitten einer quirligen bosnisch-serbischen Großfamilie groß und denkt sich die Welt dank Zauberhut und -stab einfach schöner aus. Deshalb kann man dieses Kriegsbuch auch zu Ende lesen, ohne zu verzweifeln.
Der gewaltige Familien-Clan trifft sich gleich zu Beginn des Romans, kurz vor dem Krieg, weil Opa Slavko gestorben ist. So tritt z.B. Tante Gordana auf, die „achtmal schneller läuft und vierzehnmal hektischer redet“ als normale Menschen und deshalb Taifun genannt wird, und wir lernen Onkel Bora kennen, der so viel wiegt, „wie meine Urgroßeltern alt sind.“ Opa Slavko hat Alexandar nicht nur das Schwimmen unter der Bogenbrücke beigebracht, sondern auch das Angeln und die Verehrung des Genossen Tito, der 1991 noch in allen jugoslawischen Schulzimmern hing. Obwohl „Opas Tod … das Gegenteiligste von Sommer (ist)“, geht das bunte Leben natürlich weiter, es wird bei jeder Gelegenheit gefeiert, köstlich geschlemmt und viel getrunken. Hackfleischpflaumen, Fußball, Angeln und Frauen sind die allgegenwärtigen Themen, und zu jedem kann Stanišić wundervolle Anekdoten erzählen. Aber der Krieg kommt, er schleicht sich ein in jede seiner Geschichten, auch in die von dem gehörnten Schiedsrichter Pavlovic, genannt Walross, der die rothaarige Milica in einem geklauten Centrotrans-Bus nach Visegrád mitbringt. „Ich bin zurück, mir ist der Krieg auf den Fersen, erzählte Walross von seiner Reise, der letzten, so sagte er, die man für lange Zeit so voller Sorgen und doch so sorglos gemacht haben wird in diesem Land.“
Dann kommt der Krieg, ohne Vorwarnung und ohne, dass Aleksandar ihn erklären könnte, er beobachtet ihn wie durch ein Loch im Zaun, mit großen Augen und Ohren. Der sprühende Humor und die überbordende Lebensfreude erlahmen, denn es ist nichts mehr komisch. Der Umzug der Familie in den Keller, als die Bombeneinschläge näher kommen, erscheint Aleksandar selbstverständlich. Am Tag spielen die Kinder jetzt Krieg:
„Die Einschläge der Artillerie und das Gekläff der Maschinengewehre kann Edin am besten nachahmen. Deshalb will ihn jede Mannschaft für sich haben, wenn wir Artillerie im Keller spielen.“
Die feindlichen Soldaten besetzen und verwüsten das Haus, und die kleine verwaiste Asja, die sich auf dem Speicher versteckt, „weint, weil Soldatenfäuste nach Eisen riechen und niemals nach Seife. Weil den Soldaten die Gewehre um die Nacken baumeln und Türen unter ihren Tritten nachgeben, als gebe es keine Schlösser. Sie weint, denn so hatten Soldaten auch in Asjas Dorf die Türen eingeschlagen, …“.
In der Beschreibung eines Fußballspiels zwischen den verfeindeten Parteien mitten im Stellungskrieg, das mit der Erschießung der bosnischen Soldaten endet, gelingt es Stanišić, den ganzen Irrsinn und die schonungslose Grausamkeit des Kriegs auf den Punkt zu bringen: „Die Sonne warf lange Baumschatten auf die Lichtung hinter Gottes Füßen, hinter Gottes Füßen in Soldatenstiefeln, hinter Gottes Füßen, an denen Blasen trieben, hinter Gottes dribbelnden Füßen“.
Aleksandar und seine Eltern können nach Deutschland fliehen und entkommen so dem Inferno. In Essen, wo sie ein kleines Zimmer bei Aleksandars Onkel bewohnen, fühlen sie sich nicht willkommen. Aleksander lernt schnell Deutsch, er „sammelt“ die deutsche Sprache. Sein Aufsatz zum Thema „Essen, ich habe dich gern“, wird allerdings zur Lachnummer, weil er darin die Zubereitung von Börek beschreibt.
„Ganz Essen“, resümiert er, „ist eigentlich eine Riesengarage und man möchte dem Unkraut zwischen den Bordsteinen danken, dass es hier aushält“.
Aleksandars Sehnsucht nach seiner unbeschwerten Kindheit in Visegrád mündet in immer fantastischere Geschichten, z.B. von dem mindestens zwei Meter langen Wels, den er nach einem abenteuerlichen Kampf mithilfe seiner beiden Freunde Hasan und Sead aus der Drina holt und schließlich doch wieder freilässt.
„Und, was hast du behalten?, fragt Opa. Den Tag, sage ich und sehe ihn an.“
Oder seine Erlebnisse mit dem aus Italien geholten Staudammingenieur Francesco, in den sich Aleksandars Mutter verguckt:
„Die Kirsche und die Wangen meiner Mutter blühten wie selten, also beschloss ich, mich mit Francesco entweder anzufreunden, oder ihn fortzujagen. … Ich zeigte auf den Ball, dann auf ihn, und sagte: Dino Zoff*. Die Wette war einfach: hielt Francesco mindestens drei meiner fünf Schüsse, durfte er bleiben. Hielt er zwei oder nur einen, musste ich seine Pläne verbrennen und seine Zirkel und sein Unterhemd im Garten bei den Erdbeeren vergraben … So wurden Francesco und ich Freunde …, also brachte ich ihm gleich am ersten Abend, nachdem er alle meine Schüsse mit Leichtigkeit gehalten hatte, einiges bei.“
An Asja, die nicht nach Deutschland mitkommen konnte, schreibt Aleksandar viele unbeantwortete Briefe. 2002 kehrt er in das kriegszerstörte Visegrád zurück, um sie zu finden. Schnell wird klar, dass sein Zuhause und alles das, was seine Kindheit so besonders gemacht hat, nur noch in seinen Gedanken existiert.
Durch seine funkelnde, märchenhafte Sprache und die besondere, nur teilweise chronologische Erzählstruktur schafft es Stanišić, ein eindrucksvolles Bild von dem unaussprechlichen Grauen des Kriegs zu zeichnen.
*Dino Zoff: Legendärer italienischer Fußballtorwart