Zerstreuung oder Die Qualen der Quarantäne
Der Mathematiker, Physiker und Philosoph Blaise Pascal hinterließ, als er 1662 im Alter von 39 Jahren starb, eine aus unzähligen Zetteln bestehende Sammlung von Gedankenfragmenten. Sie wurden unter dem Titel »Pensées« (»Gedanken«) veröffentlicht. Einige davon tragen die Überschrift »Divertissement« (»Zerstreuung«). Sie befassen sich mit der Frage, warum wir es so unangenehm finden, wenn wir unsere Wohnung nicht verlassen dürfen. Pascals Antwort ist ernüchternd.
»Wenn ich manchmal darüber nachdenke, welchen Aufregungen, Gefahren und Leiden sich die Menschen hingeben, sei es bei Hofe oder im Krieg, und wenn ich bedenke, wie viele Streitereien, Leidenschaften, wilde und oftmals üble Unternehmungen daraus entstehen, dann, so habe ich oft gesagt, bleibt nur eine Schlussfolgerung, dass nämlich alles Unglück der Menschen aus einer einzigen Sache kommt: Man bringt es einfach nicht fertig, ruhig in seinem Zimmer zu bleiben.
Wenn ein Mensch, dem es an nichts von dem fehlt, was er zum Leben braucht, in der Lage wäre sich zu Hause seines Lebens zu freuen – er würde nicht seine Wohnung verlassen, um auf dem Meer herumzufahren oder um irgendeine Festung zu belagern. Aber nein, man ergattert mit großem Aufwand einen hohen Posten, zum Beispiel beim Militär – nur deshalb, weil man es unerträglich findet, in den Mauern seiner Stadt zu bleiben. Alle die Gespräche und Zerstreuungen dienen nur dem einen Zweck: Nicht zu Hause bei sich bleiben zu müssen.
Als ich genauer darüber nachdachte … fand ich auch die tiefere Ursache für diesen Befund. Und sie besteht in dem natürlichen Unglück unserer allzu schwachen und sterblichen Beschaffenheit als Menschen. Sie ist so erbärmlich, dass uns nichts trösten kann, sobald wir darüber nachdenken …
Daher kommt es, dass die Menschen sich ablenken wollen, den Lärm lieben und die Aufregung. Sie wollen auf keinen Fall sich selbst begegnen. Daher kommt es, dass Gefängnisse so schreckenerregende Orte sind. Deshalb kann niemand verstehen, wie es möglich sein sollte, dass sich jemand über seine Einsamkeit freut … Und schließlich: Besteht nicht das ganze Glück der Könige zu einem großen Teil einfach darin, dass man ununterbrochen daran arbeitet, sie durch alle Möglichkeiten der Unterhaltung von sich selbst abzulenken? Denn jeder König wird unglücklich, wenn er an sich selbst denkt.
Gleichgültig, welche Lebenslage man sich vorstellt, wieviel Reichtum man zu besitzen sich ausmalen will: König zu sein, ist doch das Schönste, was es geben kann. Und trotzdem, wenn man sich ihn vorstellt, diesen König, dem alle Möglichkeiten des Lustgewinns zur Verfügung stehen, die man ersinnen kann: Wenn er ohne Zerstreuung ist, wenn nichts ihn ablenkt, wenn man ihn allein lässt mit dem Gedanken daran, wer er eigentlich ist, so wird ihm dies schwache Glück nichts nützen. Mit genauer Notwendigkeit wird er in Gedanken darüber versinken, welche Revolten des Schicksals ihn ereilen könnten, und schließlich wird er an Tod und Siechtum denken, die ja unvermeidlich sind. Er wird, wenn ihm die sogenannten Zerstreuungen fehlen, unglücklich sein, noch sehr viel unglücklicher als der Erbärmlichste seiner Untertanen, der sich im Spiel vergnügt.«
Eine Erkenntnis, die man daraus gewinnen kann, ist, dass Zerstreuung und Unterhaltung tatsächlich helfen können, unangenehme Wahrheiten vorübergehend zu vergessen. Das ist ja schon mal etwas Schönes. Dass man in der Einsamkeit der eigenen Wohnung allerdings auf jede Zerstreuung verzichten müsste, ist unter den Bedingungen unserer Zeit nicht mehr der Fall. Fernsehen gibt es rund um die Uhr auf tausend Kanälen, das Internet hält Zerstreuung für Milliarden Menschen und Milliarden Jahre bereit und notfalls kann man ja immer noch telefonieren. Trotzdem sind Begegnungen mit dem eigenen Ich gelegentlich unvermeidlich und sie können enttäuschend verlaufen. Und es kann sogar mitten in einer ausgelassenen Unterhaltungsatmosphäre sein, dass uns jenes Gefühl anweht, das man im Rheinischen »et ärm Dier« nennt und von dem Gottfried Benn schrieb: »Selbst auf den Fifthe Avenuen / Fällt Sie die Leere an.«
Pascal bietet dem trostlosen Menschen einen Ausweg an: den Glauben an Gott. Das klingt für den Menschen des 21. Jahrhunderts auf Anhieb vielleicht ein bißchen sehr billig. Aber der Ausweg, so wie ihn Pascal beschreibt, ist nicht so dumm, wie er manchem vorkommen mag. Pascal war immerhin – zusammen mit Pierre de Fermat – Begründer der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Und so setzt er genau auf die Eigenschaft des Menschen, die seine Schwäche ausmacht: Dass er nämlich einerseits den Gesetzen von Krankheit und Tod unterliegt, andererseits aber in der Lage ist, Ideen von großer Tiefe und unsterblicher Schönheit zu entwickeln, dass er zum Guten fähig ist, immer schwankt und nie wissen kann, ob er richtig liegt: »Der Mensch ist ein denkendes Schilfrohr«, sagt Pascal. Und noch etwas sagt er: Du ahnst, dass die Existenz Gottes Dich retten könnte? Du weißt aber nicht, ob es Gott gibt? Niemand weiß das. Aber es ist in dieser Lage nachweislich vernünftig, auf Gott zu wetten. Wenn Du an das Gute nicht glauben kannst, dann wette. Wenn Du mit allem, was Du hast, nämlich mit Deinem ganzen Menschsein auf die Existenz Gottes wettest, können zwei Dinge passieren: Entweder Du gewinnst, dann gewinnst Du alles. Oder Du verlierst, dann verlierst Du nichts. In jedem Fall wirst Du besser gelebt haben.