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Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal (01.09.22)

 

Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal
saßen einst zwei Hasen,
fraßen ab das grüne, grüne Gras,
fraßen ab das grüne, grüne Gras
bis auf den Rasen.

Als sie sich dann sattgefressen hatten,
setzten sie sich nieder,
bis daß der Jäger, Jäger kam,
bis daß der Jäger, Jäger kam
und schoß sie nieder.

Als sie sich dann aufgesammelt hatten
und sich besannen,
daß sie noch am lieben Leben waren,
daß sie noch am lieben Leben waren,
liefen sie von dannen.

Das Lied kennt eigentlich jeder. Als ich es neulich von einem Kind gesungen hörte, kam mir auch die Frage wieder in den Sinn, die sich vermutlich viele Kinder stellen. Nämlich, wieso die Hasen nicht tot sind, nachdem sie erschossen wurden. Wurden sie vielleicht nur angeschossen? Aber niedergeschossen müsste doch eigentlich heißen, dass sie vom Schuss getroffen wurden und umfielen und dann vermutlich auch nicht mehr weglaufen konnten, was sie aber dem Lied zufolge taten. Oder wurden die Hasen gar nicht getroffen, sondern taten nur so? Es bleibt ein Rätsel. Oder genauer gesagt ein Wunder. Manchmal merkt man in größter Gefahr, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, dass man doch noch liebes Leben hat. Dann kann man, wenn man geistesgegenwärtig ist, abhauen, irgendwohin, wo man leben kann. In Zeiten, in denen man jeden Tag das Gefühl hat, von üblen Nachrichten erschossen zu werden, ist das ein Trost. Man kann Glück haben. Das liebe Leben kann weitergehen. Und das ist vermutlich der Grund, warum das Lied nicht totzukriegen ist.

Bei meinen Erkundigungen im Internet, was es mit dem Lied auf sich hat, stieß ich auf einen kleinen Abschnitt aus Theodor W. Adornos »Minima Moralia«, den ich hier mit vorausgesetzter Zustimmung der Rechte-Inhaber zitieren will.

»Seit ich denken kann, bin ich glücklich gewesen mit dem Lied: ›Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal‹: von den zwei Hasen, die sich am Gras gütlich taten, vom Jäger niedergeschossen wurden, und als sie sich besonnen hatten, daß sie noch am Leben waren, von dannen liefen. Aber spät erst habe ich die Lehre darin verstanden: Vernunft kann es nur in Verzweiflung und Überschwang aushalten; es bedarf des Absurden, um dem objektiven Wahnsinn nicht zu erliegen. Man sollte es den beiden Hasen gleichtun: wenn der Schuß fällt, närrisch für tot hinfallen, sich sammeln und besinnen, und wenn man noch Atem hat, von dannen laufen. Die Kraft zur Angst und die zum Glück sind das gleiche, das schrankenlose, bis zur Selbstpreisgabe gesteigerte Aufgeschlossensein für Erfahrung, in der der Erliegende sich wiederfindet. Was wäre Glück, das sich nicht mäße an der unmeßbaren Trauer dessen was ist? Denn verstört ist der Weltlauf. Wer ihm vorsichtig sich anpaßt, macht eben damit sich zum Teilhaber des Wahnsinns, während erst der Exzentrische standhielte und dem Aberwitz Einhalt geböte. Nur er dürfte auf den Schein des Unheils, die ›Unwirklichkeit der Verzweiflung‹, sich besinnen und dessen innewerden, nicht bloß daß er noch lebt, sondern daß noch Leben ist. Die List der ohnmächtigen Hasen erlöst mit ihnen selbst den Jäger, dem sie seine Schuld stibitzt.«

Zitiert nach: Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1951

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