Crepuscular (15.08.24)
Die einfachste Erklärung ist: Ich hätte es von Anfang an ernster nehmen müssen. Und zwar sowohl nach innen als auch nach außen. Die Krankheit, den Trümmerbruch, das Frühlingserwachen, die federführenden Wolken, den rasselnden Atem, aber auch die Sucht, die Witze. Ich meine das gesamte Leben ernster nehmen, mein Leben. Als wäre es etwas Schriftliches. Ich hätte mit mir ins Gericht gehen müssen, oder wenigstens zum Notar. Stattdessen bin ich mit ihr in die Gerichtskantine gegangen. Damals als man noch rauchen durfte. Immer zu Scherzen aufgelegt. Sie übrigens auch. Besonders im Oktober und im März. Diese rosigen Nebel draußen und die Rotweinnebel drinnen. Aber es liegt mir eben nicht, das Ernstnehmen. Du magst der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen, sagte einer, ja sagte ich, stimmt genau, sie hat sieben Köpfe, die Wahrheit, ich mag sie nicht sehen, sie ist ein Scheusal, kein Rhythmus, kein Reim, einundzwanzig Zungen, und auf jedem Kopf sieben mal sieben Schlangen – und alle im Krieg. Sowas gucke ich mir nicht an, schon aus Gründen der Ästhetik, aber es bricht mir noch das Genick, das weiß ich, was hat der Mathematiklehrer in seinem scheißgemütlichen Kölsch immer gesagt: Dir wird dat Läscheln noch verjehen! Wie recht er hatte. Immerhin bin ich sechzig geworden, sogar vierundsiebenzig, das ist doch auch was, oder? Das schafft jeder Ziegelstein? Genau, ich hätte Stein werden sollen. Oder wenigstens Steine werfen sollen, zum Beispiel als Student, 68. Und warum hast Du nicht? Zu faul und zu feige. Kein Blut sehen können. Wo andere Ellenbogen haben, habe ich – na was denn? Qu’est ce que c’est! Mon dieu! Wackelpudding, einen frommen Spruch, einen Katechismus, einen Imperativ, einen Kalauer – jedenfalls Gequatsche, am liebsten Ausländisch, wo man nie so ganz genau weiß, was es heißt. Gnothi sauton! Carpe diem! Honni swa ki mallipangs. Weißt Du was: Ich hasse klare Verhältnisse, immer im Halb und Halb ist es, wo mir wohlig wird, die rosigen Nebel außen und der Rotweinnebel innen, Nägel immer nur ohne Köpfe, sowenig Charakter wie möglich, unauffällig und allein wie ein Marder im Hinterhof bei Sonnenuntergang: dämmerungsaktiver Einzelgänger. Du merkst nichtmal, dass er da ist. Er selbst merkts auch nicht. Nichtbeisichsein ist die Kunst. Nacht wirds ganz von allein und den Weg nach Hause findet am Ende jeder. Am besten im Dunkeln. Ech si midd.