Der gute Richter – ein Geschenk der Musen an die Menschheit (01.12.24)
Richter haben in den einschlägigen Meinungsumfragen zum Ansehen von Berufen eine ganz gute Stellung. An der Spitze liegen zwar – mit allem Recht – die Feuerwehrleute und das Pflegepersonal. Doch immer noch im obersten Drittel finden wir die Richterinnen und Richter – und zwar – ebenfalls mit allem Recht – auf derselben Stufe mit Müllwerkern und mit weitem Abstand vor Fernsehjournalisten und Politikern.
Wirft man allerdings einen Blick in die schöne Literatur, nicht nur der Gegenwart, so ändert sich das Bild. Hier sind die Richterpersönlichkeiten oft zweifelhafte Charaktere, vertrocknete Buchstabenjuristen, weltabgewandte Bürokraten und im schlimmsten Fall autoritätshörig, wenn nicht sogar bestechlich.
Da tut der Richterseele ein Blick in ein vor 2700 Jahren geschriebenes Langgedicht gut. Es stammt von dem ältesten namentlich bekannten Dichter des Abendlandes. Hesiod hieß er, geboren 773 v. Chr. in Kyme (heute Aliaga bei Izmir in der Türkei) und gestorben mit etwa 70 Jahren in Askra am Nordufer des Golfs von Korinth. Hesiod war von Beruf Bauer, aus Leidenschaft Dichter und notgedrungen beschäftigte er sich mit Rechtsfragen. Was daher kam, dass er einen Erbschaftsprozess gegen seinen stinkfaulen jüngeren Bruder Perses zu führen hatte, wovon das 830 Zeilen lange Epos »Werke und Tage« erzählt.
Das Lob des guten Richters finden wir im zweiten seiner Bücher. »Theogonie« lautet der Titel, es hat gut 1000 Zeilen und handelt von der Herkunft der Götter. Bei einem Spaziergang im Gebirge, so schreibt Hesiod, seien ihm die neun Musen begegnet und sie hätten ihm, tänzelnd, scherzend und lachend, alles über die Götter vorgesungen.
Gleich am Anfang dieses Buchs (Vers 80–93) finden wir das Lob der guten Richter. Sie sind hier als »Könige« bezeichnet und genießen die Gunst der Musen:
»Wenn die Musen, die Töchter des großen Zeus, einen der gottgenährten Könige bei seiner Geburt freundlich ansehen, träufeln sie ihm auf die Zunge süßen Tau. Liebliche heilsame Worte entströmen dann seinem Mund, ganze Völker schauen ihm zu, wie er Urteile spricht zur gerechten Entscheidung. Seine Rede ist sicher und fest und ohne Verzug und mit klugem Sinn macht er dem Streiten ein Ende. Dazu ist nämlich der Richter geschaffen, dass er den Menschen, die Schaden erlitten, mit freundlichen Worten zum Recht verhilft. In der Verhandlung sieht man ihn an wie einen Gott mit Ehrfurcht und Scheu. Er leuchtet hervor, ein Geschenk der Musen an das Geschlecht der Menschen!«
Die Übersetzung folgt weithin der fabelhaften Übertragung von Otto Schönberger in der zweisprachigen, mit zahleichen Anmerkungen und einem instruktiven Nachwort versehenen Reclam-Ausgabe der »Theogonie« von 2018.