Die heilige Kopflosigkeit (15.07.24)
Als wir kürzlich durch Frankreich fuhren, kamen wir in eine Stadt mit dem Namen Chateauroux. Die Stadt ist hübsch, tausend Jahre alt, liegt in Mittelfrankreich und eignet sich damit gut als Zwischenstation auf dem Weg von Deutschland in den Süden. Die neogotische Kathedrale St. André wird gerade renoviert, und eine der frisch hergerichteten überlebensgroßen Skulpturen über dem Portal der Kirche erregte unsere Neugier. Sie stellte, wenig überraschend, einen Heiligen dar, was man besonders daran erkannte, dass auf seinen Schultern ein feiner dünner runder Heilgenschein angebracht war. Überraschend war allerdings, dass innerhalb der glänzenden Gloriole gähnende Leere herrschte. Die heilige Hirnlosigkeit! So dachten wir, bis uns auffiel, dass die Figur doch einen Kopf hatte, allerdings nicht auf dem Rumpf. Sie trug ihren Kopf in der Armbeuge.
Und da fiel mir wieder ein, dass ich vor vielen Jahren zusammen mit dem Kölner Schriftsteller und Kultur-Allrounder Martin Stankowski ein, wie ich glaube, hochunterhaltsames Programm über Heiligenverehrung auf die Bühne gebracht hatte. Die Heiligengeschichten hatten wir auf Martins Vorschlag der spätmittelalterlichen “legenda aurea“ des Jacobus de Voragine entnommen. Ich habe sie dann ziemlich frei aus dem Spät-Lateinischen übersetzt und Martin Stankwoski hat sie ideeengeschichtlich, soziologisch und kunsthistorisch eingeordnet. Und in diesem Programm spielte ein kopfloser Heiliger eine wesentliche Rolle, nämlich der heilige Dionysos von Paris. Dessen Geschichte ist hier in meiner Übersetzung wiedergegeben.
Die Geschichte vom heiligen Dionysios
Dionysios verfügte wahrscheinlich nicht nur über die seltene Gabe der Bilocation, also die Kunst, sich an zwei Orten zur gleichen Zeit aufzuhalten, vielmehr waren Raum und Zeit für ihn überhaupt eine Nebensache, also das, als was der wahre Philosoph die Kausalgesetze schon immer angesehen hat: Zufällige Nichtigkeiten, Schleier und Schattenwerk.
Schon die reinen Lebensdaten, so wie die Legende sie gibt, beweisen es: Zur Welt gekommen in Athen um das Jahr 50 vor Christus, führte der Heilige etwa einhundert Jahre später auf dem Areopag mit dem Apostel Paulus ein berühmtes Streitgespräch, fand dann noch Kraft, als Bischof eine Reise nach Rom zu unternehmen, und nun, längst jenseits des Alters, in dem mit seinem Ableben noch gerechnet werden konnte, macht er sich auf nach Alexandria, studiert Astronomie, schreibt ein Buch über Sonnenfinsternisse und hat damit seinen Kreis immer noch nicht ausgeschritten, sondern geht als Missionar nach Gallien, wo er als erster französischer Bischof das Volk von Paris zum Glauben führte – und zwar gegen dessen hartnäckigen Widerstand, wie wir nun sehen werden: Das altgallische Hinterwäldlertum der niederen Stände und die römisch-heidnische Genußsucht der Vornehmen hatten sich nämlich in Paris gegen Dionysios verbündet. Eine reiche Dame trat auf und behauptete, der Bischof habe ihren Mann verzaubert. Der Bischof sei der schwarzen Kunst verschrieben und habe es durch Murmeln von Formeln und geheimnisvolle Rituale wie Handauflegen und Übergießen mit Wasser erreicht, daß ihr ehedem lebenslustiger Mann jetzt aller fleischlichen Freude abhold sei. Als ihr Mann vor den Richter geführt wurde, bekannte er, ein Christ zu sein – und wurde sofort geköpft.
Auch Dionysios mußte vor dem Richterstuhl erscheinen. Aber weil der Richter in ihm den Urheber der gefährlichen Umtriebe erkannte, kam Dionysios nicht so leicht, nämlich mit einer schlichten Enthauptung, davon. Der Richter ordnete die öffentliche Auspeitschung durch zwölf Soldaten an. Da klatschten die Lederriemen auf den Körper des Bischofs und rissen ihm die Haut auf. Als die Schergen müde wurden und das neugierige Volk sich zu langweilen begann, brachte man den Heiligen in den Kerker und kettete ihn an. Am nächsten Morgen schleiften die Soldaten den Geschundenen wieder auf die Straße, rissen ihm die Kleider vom Leib, banden ihn nackt auf ein Eisengestell und zündeten darunter Feuer an. Dionysios begann zu singen: „Als Feuergesang steige ich auf zu Dir, mein Herr und mein Gott!“ Für den Nachmittag waren ausgehungerte Löwen bestellt, die man auf Dionysios hetzte. Sie rissen die Mäuler auf, aber Dionysios segnete sie mit dem Zeichen des Kreuzes, woraufhin das eintrat, was Schiller vom Verhalten wilder Tiere gegenüber dem glücklichen Menschen sagt:
„Ihm zu Füßen wirft sich der Leu…
…und fromm beut er den Rücken ihm an.“
Dies alles geschah mitten in Paris, auf der Ile de la Citè, wo heute der Blumenmarkt ist, im Gejohle der Menge.
Da nun, wie wir sahen, Peitschen und Feuerbett und hungrige Löwen nichts nutzten, ferner auch mehrstündige Aufenthalte des Heiligen in einem brennenden Ofen und an einem Kreuz weder seinen Glauben noch seine Hoffnung brachen, verlor der furchtbare Richter endlich die Geduld. Er ließ Dionysios zum „mons martyrum“, also dem Montmartre bringen; dort schlug ein Soldat Dionysios den Kopf ab.
Der Kopf rollte aufs Pflaster, Blut strömte aus dem Hals, der Pöbel schrie vor Entzücken. Während nun aber der gewöhnliche Mensch im Falle, daß sein Kopf vom Rumpf getrennt wird, die Angewohnheit hat, umzufallen und ohne weiteren Verzug zu sterben, entschied sich der enthauptete Dionysios anders. Er bückte sich, hob seinen Kopf vom Boden auf, packte ihn wie einen Kürbis unter den Arm und bahnte sich einen Weg durch die verstummte Menge der Schaulustigen. Mehrere Kilometer hatte er mit dem Kopf unter dem Arm zurückzulegen, das alles im Winter, zu Fuß und einen Teil der Strecke bergauf. Endlich bei einer christlichen Witwe in der Banlieu angekommen, gab Dionysios den Geist auf, allerdings nicht, ohne vorher seinen blutverklebten Kopf sorgfältig gereinigt zu haben, und zwar, wie uns nicht die legenda aurea, wohl aber die Tourist-Information Paris belehrt, sehr wahrscheinlich in einem Brunnen vor dem Haus Nummer 7, Rue Yvonne-le-Tac, 18. Arrondissement, Métro Pigalle.