Ein Philosoph verteidigt »digital natives« – und die schöne Literatur (01.10.24)
Der französische Philosoph Michel Serres (1930–2019) war Marinesoldat und wurde im Sinai-Krieg eingesetzt, ehe er Philosophie studierte und schließlich als Professor an der Sorbonne und der Stanford University in den USA lehrte. Er sah die Arbeit des Philosophen als die eines Boten, eines Stifters von Verbindungen und Übergängen, man könnte auch sagen, der Philosoph muss eine Art Engel sein. Als Denkmaterial sind ihm Mathematik und Naturwissenschaften ebenso lieb wie Moralphilosophie, schöne Literatur, Soziologie und vor allem die eigene Beobachtung.
In den letzten Jahren seines Lebens wandte er sich mehrfach Themen zu, die etwas mit dem kulturellen Wandel zu tun haben, den wir gegenwärtig erleben. In »Petite Poucette« befasste er sich mit den Vorzügen und Nachteilen des Digitalen und der Welt des Virtuellen.
Als »Petite Poucette« (»Kleiner Däumling«) bezeichnet er den Typ des jüngeren Menschen, der sein Smart-Phone mit den Daumen bedient. Und anders als die meisten seiner Altersklasse verteidigt er den Däumling und seine Lernmethoden mit Nachdruck. So schreibt er:
»In der vorigen Generation vermittelte ein Wissenschaftler an der Sorbonne ungefähr 70 % des Wissens, das er selber auf den selben Bänken 20 Jahre oder 30 Jahre vorher gelernt hatte. Schüler und Lehrer lebten in derselben Welt. Heute sind 80 % dessen, was dieser Professor gelernt hat, überholt. Und auch für die 20 %, die übrig bleiben, braucht man den Professor eigentlich nicht, denn man kann alles erfahren, ohne sein Zimmer zu verlassen. Für mein Teil kann ich sagen, ich finde das wunderbar. Wenn ich einen lateinischen Vers im Kopf habe, weiß aber nicht genau woher, dann tippe ich irgendwelche Worte, die mir gerade aus dem Vers einfallen, in die Tastatur und plötzlich erscheint das Gedicht, Äneis, das 4. Buch, voilà! Stellen Sie sich einen Moment lang vor, wie lange man früher brauchte, um ein Zitat, das man nur unvollständig im Kopf hatte, zu finden. Ich setze keinen Fuß mehr in eine Bibliothek. Die Universität erlebt eine schreckliche Krise, weil das Wissen sofort und überall erreichbar ist undnicht mehr dieselbe Würde, denselben Status hat. Und in der Folge haben sich auch die Beziehungen zwischen Schülern und Lehrenden verändert. Mich persönlich beunruhigt das allerdings nicht, denn ich habe mit der Zeit verstanden, in 40 Jahren Lehrtätigkeit, dass man ohnehin niemals irgendeine Sache vermittelt, sondern nur sich selbst. Das ist folglich der einzige Rat, den ich in der Lage bin meinen Nachfolgern als Lehrenden und auch den Eltern zu geben: Seien Sie Sie selbst! (Das ist allerdings eine komplizierte Sache, man selbst zu sein.)«
Serres behandelt ein weiteres Problem, das wir mit der Welt des Virtuellen haben. Virtualität bedeutet, sagte Serres, nichts als eine Welt der Möglichkeiten. Was wir damit anfangen, müssen wir selbst enbtscheiden. Mit uns selbst geht es uns nicht besser. Denn dieser Welt der Möglichkeiten gehören nicht nur die Computer an, sondern wir als Menschen ebenfalls. Wir wissen vielleicht, was wir können sollten und wer wir sein wollen. Aber wer wir wirklich sind und was wir tun – das müssen wir selbst herausfinden.
Und daran schließt sich die Frage an, wie man sich am besten an der Deutung des Virtuellen versuchen kann. Michel Serres hat einen, wie ich finde, sehr guten Vorschlag. Die phantastische Welt der Literatur ist das Mittel der Wahl, wenn man sich in der Deutung des Virtuellen üben und Genaueres über sich selbst erfahren will:
»Theater oder Roman, Poesie oder Erzählung – die Literatur deckt die Gesamtheit der Werke unserer Imaginationskraft ab, dieser Dienerin der Erkenntnis und der menschlichen Wahrheiten, umso realer, je virtueller sie ist. Ja, das Virtuelle ist so sehr das Wesen oder die Ureigenschaft des Menschen in seiner Einzigartigkeit, dass man, um den einzelnen Menschen in seiner Realität erkennen zu können, sich in so hochgradig virtuellen Werken wie denen der Literatur unterrichten muss, die viel tiefer in das Wesen des Menschen eindringen kann als jede Philosophie oder sonstige Wssenschaft vom Menschen. Mündlich überliefert oder schriftlich niedergelegt, gedruckt, oder elektronisch, das tut alles nichts zur Sache: Das Wesentliche ist, dass die Literatur bereit ist bis zum Wahnsinn dem Virtuellen zu folgen, um die Eigenart des Menschen zu verstehen. … Was ist Literatur? Die immer unbeendigte Erzählung von möglichen Menschen. Besser noch: Die exakte Methode der weichen Wissenschaften vom Menschen. Ärgere Dich über das Virtuelle, kritisiere es, wirf es zur Tür hinaus: es wird mit Pomp und Gloria durchs Hauptportal wieder einziehen. Literatur ist nicht kaputt zu kriegen.«