Endlich nachgewiesen: Jura keine Wissenschaft (15.04.24)
»Drei Juristen – fünf Meinungen« sagt der Volksmund und bringt damit auf den Punkt, dass es sichere Rechtserkenntnis nicht gibt – jedenfalls nicht bei Juristen. Jeder, der den Beruf ausgeübt hat, weiß, dass der Volksmund in diesem Punkt nicht irrt. Es ist sogar beinahe umgekehrt: Wer Stein und Bein auf eine Rechtsauffassung schwört, ist entweder sehr jung, sehr verbohrt oder kein Jurist.
Was bedeutet es für ein immerhin seit Jahrhunderten an Universitäten gelehrtes Fach, dass niemand sicher sein kann, das Richtige zu treffen, ja dass man oft noch nicht einmal wissen kann, was das Richtige ist und ob es so etwas wie richtig und falsch überhaupt gibt?
Nein, das Fach wird nicht überflüssig, genauso wenig wie Philosophie oder Literaturwissenschaft. Aber es ist eben keine exakte Wissenschaft. Rechtliche Urteile sind ästhetischen Urteilen sehr viel näher als logischen Schlussfolgerungen. Und durch eine gute und angenehme Sprache überzeugen zu können, ist im Fach Jura fast so wichtig wie in der Literatur.
Das Dumme ist, dass der Zugang zu Rechtsberufen bis heute so organisiert ist, als wäre juristische Leistung messbar wie Zucker oder Mehl. Die derzeit angewandte Punkteskala bei schriftlichen und mündlichen Prüfungen reicht von 1 (ganz schlecht) bis 18 (supersehr gut). In staatliche Ämter kommen in der Regel nur Prüflinge mit Notendurchschnitten ab 10 Punkten. 9,8 reicht dann eben nicht. Konkret kann das heißen: Mit 9,8 Punkten kann man nicht Richterin werden, mit 10 Punkten schon.
Dass dieses – im Kern schlappe 200 Jahre alte – System unsinnig ist, liegt eigentlich auf der Hand. Dass es Züge der Willkür zeigt und deshalb sogar verfassungswidrig sein dürfte, lässt sich aus einer Untersuchung an der Universität München schließen. 16 Klausuren wurden je 16 Korrektoren zur Bewertung vorgelegt. Die Ergebnisse schwankten je nach Korrektor um bis zu 11 Punkte! Die Durchschnittsabweichung betrug 6 Punkte. Eine Auslese auf dieser Grundlage ist keine Bestenauslese (Art. 33 Abs. 2 GG), sondern nähert sich der Lotterie.
Ob sich an dem offenkundigen Missstand etwas ändern wird? Wahrscheinlich nicht. Die darüber als Beamte oder Richter zu entscheiden hätten, sind in ihre Ämter auf der Grundlage des bisherigen Systems gelangt. Und sie müssten sich eingestehen, dass sie auf ihrem Weg ins hohe Amt vielleicht doch ein bißchen mehr Glück als Verstand hatten. Eher wird sich wohl ein weiteres Mal die Auffassung des englischen Philosophen Jeremy Bentham (1748–1832) bestätigen, der sagte: »Recht ist die Kunst, das mit System zu bestreiten, was für jedermann offensichtlich ist.«