»Schwebend unterm Apfelbaum« (01.06.23)
Die kleine Stadt Sömmerda in Thüringen hat ein erstaunlich munteres Kulturleben, das sie dem Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger verdankt. Neben dem Jazzclub »Piano« trägt dazu auch die »Galerie SILO – Alte Straßenmeisterei« bei. Hier gibt es Ausstellungen, Feste, Theateraufführungen u.v.a.m. Betrieben wird sie von Rositha Fundele und Olaf Bartsch, die für ihren stets wohlgelaunten und inspirierenden Einsatz im Jahre 2016 vom damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck ausgezeichnet wurden. Die untenstehende Rede durfte ich am 27. Mai 2023 zur Eröffnung einer Ausstellung mit Werken von Barbara Toch, Simone Mönch und Wolfgang Schwarzentrub halten.
Es ist mir eine große Ehre, hier einige Worte zur Eröffnung der Ausstellung »Schwebend unterm Apfelbaum« sagen zu dürfen und dies, obwohl ich vor sechs Jahren schon einmal hier stand und bekennen musste, dass ich eigentlich gar keine fachliche Beziehung zu Kunst und Design habe. Daran hat sich nichts geändert. Die bittere Wahrheit ist, dass ich in einem ziemlich amusischen Genre ausgebildet bin, nämlich in dem der Juristerei. Zur bildenden Kunst habe ich ein rein emotionales, nicht wirklich vernunftgesteuertes Verhältnis. Ich fühle mich von bunten Bildern und glitzerndem Schmuck angezogen wie eine Biene von den Blüten des Apfelbaums oder wie Pu der Bär vom Honigtopf – also ohne eigentlich sagen zu können, warum.
Zuvor will ich aber doch etwas zu dem von Rositha Fundele erdachten und so rätselvoll zauberhaften Motto der Ausstellung sagen: »Schwebend unterm Apfelbaum« heißt es, und ich musste länger darüber nachdenken, was damit gemeint sein kann. Der Apfelbaum ist mit unserer Kultur so eng verbunden, dass man ihn in allen möglichen Zusammenhängen findet. Wir denken an Adam und Eva und den Baum der Erkenntnis, wir denken an den goldenen Apfel, der als Preis eines Schönheitswettbewerbs zwischen den Göttinnen Athene, Hera und Aphrodite ausgesetzt war, auch Schneewittchens vergifteter Apfel kommt uns in den Sinn, der Reichsapfel als das kaiserliche Herrschaftssymbol oder der Apfel auf dem Haupt von Wilhelm Tells Sohn. Also ein ganzer Korb von Äpfeln in der Welt der Kunst.
Aber im Motto dieser Ausstellung geht es natürlich nicht so sehr um den Apfel als einzelne Frucht, sondern vor allem um das, was unter dem Baum so hin- und herschwebt. Und das ist, wie die Biologen wissen, eine Menge, ein kleiner Kosmos für sich: Blattläuse, Marienkäfer, Springspinnen, Nachtfalter, Schmetterlinge, Florfliegen, Wespen, Hummeln, Bienen und viele andere Lebewesen halten sich, in fruchtbarem Gewimmel und Gesumme einander helfend und einander bekämpfend, gern unter dem Baum auf. Und auch wir Menschen haben eine besondere Beziehung zum Schatten des Apfelbaums, wie uns das Hohe Lied aus dem Alten Testament lehrt, jenes Liebeslied, in dem die Fürstentochter Sulamith ihren Geliebten wie folgt anspricht:
»Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen des Waldes, so ist mein Freund unter den Jünglingen. Unter seinem Schatten zu sitzen begehre ich, und seine Frucht ist meinem Gaumen süß. … Er labt mich mit Äpfeln; denn ich bin krank vor Liebe. Seine Linke liegt unter meinem Haupte, und seine Rechte herzt mich. Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, … dass ihr die Liebe nicht aufweckt noch stört, bis es ihr selbst gefällt.«
Der Traum von der Liebe hat also einen geradezu mythischen Platz im Schatten des Apfelbaums. Bevor ich gleich nochmal darauf zurückkomme, will ich kurz einen anderen, etwas traurigen, weil leider zerplatzten Traum erwähnen, der in der deutschen Dichtung auch unterm Apfelbaum schwebt, oder genauer gesagt: hängt. Ich denke da an einige Zeilen von Wilhelm Busch, in denen die berühmte Witwe Bolte, die ja eine kleine Hühnerzucht betrieb, die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, als sie sehen muss, was Max und Moritz ihrem lieben Federvieh angetan haben. Da heißt es:
»Ahnungsvoll tritt sie heraus.
Ach was war das für ein Graus!
‚Fließet aus dem Aug‘ ihr Thränen!
All mein Hoffen, all mein Sehnen,
Meines Lebens schönster Traum
Hängt an diesem Apfelbaum!‘«
Während sich Sulamith ihren Geliebten herbeiwünscht, ist es im Falle der Witwe Bolte das Leben ihrer drei Hühner und des Hahns, auf die das Hoffen und Sehnen gerichtet ist. Das Gemeinsame ist der Ort, an dem die beiden Träume stattfinden oder scheitern, nämlich der schattige Raum unter dem Apfelbaum. Und wenn man in deutschen Gedichten und damit gewissermaßen im deutschen Gemüt weiter blättert, stellt man fest, dass die Bibel und Wilhelm Busch keineswegs die einzigen sind, die mit dem Apfelbaum Lebensträume verbinden. Es muss auch nicht immer die Liebe sein oder das Federvieh. Denn das, was unter dem Apfelbaum schwebt und summt und rauscht, kann ein Bild sein für das menschliche Tun überhaupt, wie in dem Apfelbaum-Gedicht, das unser guter Goethe uns hinterlassen hat:
»Der Apfelbaum, der alte
Steht blühend noch im Hof;
Die Bienen summen, munter
Im warmen Sonnenlohf.?
Es regt sich was am Baume,
Man sieht’s an Blatt und Blüt‘;
Man hört’s, an jedem Zweige
Ein leises Rauschen geht.
…
So will auch ich mich regen
Und rauschen fort im Tun;
Will fröhlich sein und geben
Und nimmermehr in Ruh’n.«
Das Schweben der Schmetterlinge und Bienen und kleinen Spinnen unterm Apfelbaum bekommt also, wie so vieles bei Goethe, eine Wendung aus dem Träumerischen ins Produktive, man verharrt nicht im seligen Lächeln und verträumten Schwärmen und Spintisieren, sondern der Apfelbaum ist eben auch ein Lebensbaum. Der Apfelbaum wird mitsamt dem, was darunter träumt, ein Symbol der Überlebenslust und Freude am Sein und am schöpferischen Tun.
Man muss allerdings einräumen, dass Überlebenslust und Daseinsfreude in der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Stimmung Probleme haben, sich durchzusetzen. Seuche, Krieg und Klimakatastrophe bestimmen die Debatten und verdüstern vielen von uns die Laune so nachhaltig, dass sich mancher fragt, ob er überhaupt noch das moralische Recht hat, sich zu freuen oder das Leben zu feiern oder ob nicht, wie Bert Brecht einmal schrieb, ein »Gespräch über Bäume ein Verbrechen ist«, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt.
Ich glaube, gerade in dieser Zeit ist es wichtig, an Martin Luther zu erinnern und daran, was er über Apfelbäume dachte und sagte. Er lebte bekanntlich in einer Epoche, die Kriege und Seuchen im Überfluss zu bieten hatte und in der der Weltuntergang mindestens so nahe zu sein schien, wie es uns heute manchmal vorkommen mag. Aber das machte ihn nicht zum depressiven Defaitisten. Im Gegenteil: Auf die Frage, was er machen würde, wenn er wüsste, dass am nächsten Tag die Welt unterginge, sagte er: Ich werde noch heute einen Apfelbaum pflanzen.
Das Pflanzen eines Apfelbaums ist also ein Bekenntnis zum Leben und zwar zum tätigen und fruchtbringenden Leben, das wir nach Luthers Meinung immer wieder neu anfangen sollen, egal wie düster die Aussichten sind. Vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn die jungen Freunde von der Letzten Generation statt darüber nachzudenken, was man alles kaputt machen kann, eine Idee hätten, was man an Positivem bewirken und – auch im übertragenen Sinne – zum Blühen bringen könnte.
Die beiden Künstlerinnen und der Künstler, denen diese Ausstellung gewidmet ist, zeigen jedenfalls in ihren Werken auf je eigene Art, dass man der Missstimmung, die sich in unseren Tagen breit macht, etwas entgegensetzen kann, nämlich Kunst. Und zwar Kunst nicht im Sinne einer Ablenkung von der Wirklichkeit, sondern im Sinne einer Bearbeitung der Materiaität des Lebens.
In ihren nachdenklichen Gemälden schiebt Barbara Toch scheinbar abstrakte Strukturen und seltsam fließende, tropfende vegetative Formen malerisch ineinander und schafft so ein Zusammenspiel, manchmal auch ein Gegeneinanderarbeiten von Gewölken und Gefiedern, nestartigen Gebilden, farbigen Netzen. Es sind gemalte Rätsel. Sie verwandeln das Verwirrende und Verwirrte, das Widersprüchliche und das Beängstigende unserer Welt, das Sichtbare und das in Algorithmen Gärende in Farben und Formen von seltsamer, vestörender Schönheit an der Grenze zwischen Traum und bildgewordener Philosophie. Wer diese Bilder etwas länger auf sich wirken lässt, mag vielleicht auf den Gedanken kommen, dass er die Rätsel, von denen ich sprach, das lebendige und oftmals widersprüchliche Gesumm in seinem eigenen Innern wahrnehmen kann
Die Schmuckstücke von Simone Mönch strahlen eine vornehme Einfachheit aus, die sich manchmal auch eine scherzhafte Verspieltheit gestattet. Ich denke da an den »Gemüsering«, in dessen runde Kopfplatte winzige bunte Kleinode eingefasst sind, in denen man Miniaturen von Früchten sehen kann und die von einer goldenen Umrandung wie mit einem Gartenzaun gesäumt sind. In einer Kette glaube ich Formen erkannt zu haben, die an kleine Blätter oder Schmetterlinge erinnern. Auch hier atmen die Formen eine klassische Noblesse, so dass man glauben könnte, diesen Schmuck hätten auch die griechischen Grazien tragen können, als sie sich um den goldenen Apfel stritten.
Wolfgang Schwarzentrubs Werke sind ein Beleg dafür, wie aus der künstlerischen Auseinandersetzung mit wirklich harten Themen beeindruckende Kunst entstehen kann. Ich erwähne hier beispielhaft das Projekt »Überstrahlt«. Es geht um den Uranabbau bei Ronneburg. Die Bilder, die Scharzentrub dazu schuf, erzählen vom gewalttätigen Vorgehen des Menschen gegenüber der Natur, wenn er ganze Landstriche aufreißt und zerstört, um Ressourcen zu gewinnen. Und wie der Mensch anschließend, wenn sich die Ausbeutung der Mutter Erde nicht mehr lohnt, zur – wie soll man sagen – Wiedergutmachung seiner Schandtaten erneut mit tiefen Eingriffen der Natur die menschlichen Harmoniekonzepte aufzwingt. Diese gewissermaßen mehrfach gebrochene Realität spiegelt sich auch in Schwarzentrubs Arbeitsweise, die auf der Grundlage zeichnerischer Erkundung mit immer neuen Übermalungen die Realität in eine tiefgründige Farbwelt verwandelt.
Bitte gestatten Sie mir noch eine Schlussbemerkung, die zwar nichts mit Apfelbäumen und auch nichts mit bildender Kunst zu tun hat, wohl aber mit Lebenskunst, die ja doch zu einem guten Teil darin besteht, seiner Existenz ungeachtet aller Zumutungen und Traurigkeiten eine Lust abzugewinnnen. Der römische Dichter Horaz befasste sich immer wieder mit dieser Frage. Er fordert uns nämlich ganz wie Goethe und Martin Luther auf, schöne Ereignisse zu genießen und das Leben zu feiern: »Carpe diem« lautet das Motto, das gewiss auch zu diesem wunderbaren Vernissage-Abend passt. Es stammt aus einer Ode dieses genialen Dichters Horaz, dessen Lebensweisheit in diesem Buch hier festgehalten ist, das ich bei der Finissage am 2. Juli 2023 um 15.00 Uhr ausführlich vorstellen darf.
carpe diem!
du, frag nicht, denn man soll es nicht wissen: welches mir, welches dir,
welches ende die götter uns geben. Leukonoe, frag nicht
asiatische horoskope. besser ist dulden was kommt.
ob Jupiter viele herbste noch schenkt, ob dies der letzte ist,
der jetzt an widerstrebenden klippen welle um welle bricht
des meers – sei klug und kläre den wein und schneide die wachsende
hoffnung zurück. ach, während wir reden, entflieht die neidische
zeit: carpe diem. lebe jetzt. trau niemals dem morgigen tag.