Thüringen 24 (15.09.24)
Wer in Weimar in diesem zu Ende gehenden Sommer durch die Straßen spazierte und sich umschaute, geriet unweigerlich in angenehme Stimmung. So klein das Städtchen ist, so weltläufig und freundlich ist der Eindruck – die Landessprache ist Thüringisch, man hört aber auch Sächsisch und Angelsächsisch, Vietnamesisch, Westfälisch, Holländisch, Ukrainisch – was zu Verständigungsproblemen nur dann führt, wenn es um das Wort »No« (mit offenem o) geht, das in nahezu allen Sprachen der Welt einschließlich Zentralkurdisch »Nein« bedeutet, außer in Thüringen: Da hat es bejahenden Sinn.
Also Thüringen im Sommer, genauer gesagt Weimar im Sommer: Entspannte Menschen flanieren oder sitzen vor den Cafés und Restaurants, man plaudert, debattiert, erfreut sich am Speiseeis oder Bier, man lacht, musiziert, stundenlang wird Tango getanzt auf dem Theaterplatz, Goethe, Schiller schauen milde auf das Treiben herab, Bratwurstgrill auf dem Markt, vor dem Schloss auf der auch »KiWi« genannten Grünfläche junge Menschen, spielend, rauchend, singend und ein charakteristisch duftender Duft in der Luft … und überall Goetheverrückte schweigend ins Gespräch vertieft. Wahrlich, eine offene einladende Welt für Sinnenfrohe, eine Republik der milden Vergnüglichkeiten. Von gespaltener Gesellschaft, von feindseliger Gespanntheit, bösen Schreiereien ist weit und breit nichts zu sehen. Manche stören sich an den Montagsdemos, aber die sind eben nur montags, und man muss schon sagen, 1968 in Frankfurt oder Köln waren die Demos lauter. Und was die Parolen angeht, war man damals auch nicht wählerisch: Weder Ho Chi Minh noch Che Guevara waren lupenreine Demokraten.
Und so sind wir schon bei der Politik. Sie ist kompliziert in Thüringen und war es früher auch. Das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach schrieb 1816 als einer der ersten deutschen Staaten die Pressefreiheit in die Verfassung, später wurde Thüringen mit Gotha und Erfurt zur Wiege der deutschen Sozialdemokratie, die liberale demokratische Verfassung der ersten deutschen Republik wurde 1919 in Weimar beschlossen und in Schwarzburg (das liegt ebenfalls in Thüringen) verkündet.
Der bittere Teil der Wahrheit ist, dass Thüringen 1924 einen Rechtsruck erlebte und 1930 das erste Land war, in dem die NSDAP in – wohlgemerkt: demokratischen – Wahlen an die Regierung kam. 1934 wurde das Land Thüringen von Hitler aufgelöst, es entstand nach dem Zweiten Weltkrieg wieder, wurde 1952 erneut abgeschafft, diesmal von der DDR-Regierung. Nach der sogenannten Wende kam 1990 die dritte Wiedergeburt Thüringens, diesmal als Freistaat mit einer 1993 in Kraft getretenen Verfassung, in deren Präambel das Ziel betont wird.
»Freiheit und Würde des Einzelnen zu achten, das Gemeinschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu ordnen, Natur und Umwelt zu bewahren und zu schützen, der Verantwortung für zukünftige Generationen gerecht zu werden, inneren wie äußeren Frieden zu fördern, die demokratisch verfasste Rechtsordnung zu erhalten und Trennendes in Europa und der Welt zu überwinden«.
Das klingt doch gut! Sollte vielleicht das Morgengebet all derer sein, die sich gerade anschicken, die Regierungsmehrheit für die nächsten fünf Jahre zu bilden.
Aber kann das überhaupt gutgehen? Bei den Mehrheitsverhältnissen? Wird jetzt alles furchtbar? Haben die Ossis den Verstand verloren? Wenn das so wäre, würde es auf die Hälfte der Holländer genauso zutreffen, und auf ein gutes Drittel der Belgier, Franzosen und Österreicher ebenfalls. Abgesehen davon, dass ein guter Teil der Thüringer Spitzenpolitiker aus dem Westen stammen: Man muss ja am Ende mit dem auskommen, was ist und wie es ist, erst recht, wenn man es verbessern will. Es hilft bestimmt nichts, alle möglichen Politiker/innen zu beschimpfen. Da kein Mensch allein das Richtige weiß und allein existieren kann, bleibt nichts übrig als friedliche Zusammenarbeit aller mit allen. Wer war es noch, der gesagt hat: »Die Häuser werden gebaut mit den Steinen, die vorhanden sind.«?