Wem gehört das Genie? Eine Buchempfehlung – (nicht nur) für juristisch interessierte Literaturfreunde (15.01.25)
2024 war Kafka-Jahr. Bücher, Filme, Podcasts, Konferenzen: Anlass war der hundertste Todestag des Dichters, der am 3. Juni 1924 starb. Der legendäre Streit um sein Erbe ist das Thema des hier besprochenen Buchs von Ulrich Fischer. Es ist vor einigen Monaten im Wallstein-Verlag erschienen und trägt den Titel: »alles … restlos und ungelesen zu verbrennen.«
Franz Kafka, promovierter Jurist und von Beruf Versicherungsangestellter, hatte mit seinen literarischen Arbeiten zu Lebzeiten wenig Erfolg. Er selbst zweifelte an dem Wert seiner Werke. Kurz vor seinem Tod bat er in zwei handgeschriebenen Briefen seinen engen Freund, den ebenfalls literarisierenden Doktor der Rechte Max Brod, alle seine unveröffentlichten Schriften zu vernichten. Dazu zählten etwa die Romane »Der Prozess«, »Das Schloß« und »Amerika«. Nach dem Tod Kafkas tat Max Brod (1884–1968) in Absprache mit Kafkas Erben das glatte Gegenteil von dem, worum ihn sein Freund gebeten hatte: Er veröffentlichte die nachgelassenen Manuskripte.
Max Brod hatte den Wert der Werke seines Freundes erkannt. Er wusste, dass er der Menschheit oder jedenfalls ihrem geistig wachen Teil schweren Schaden zufügen würde, wenn er dem Wunsch seines todkranken Freundes folgen würde. Er steckte also in einem moralischen Dilemma wie aus dem Bilderbuch, das jahrzehntelang die Literaturwissenschaft beschäftigte und auch die Justiz nicht ganz kalt ließ, wie ein Ende Juni 2016 ergangenes Urteil des Obersten Gerichtshofs von Israel zeigte. Für Max Brod jedenfalls, der nicht so viel Zeit zum Nachdenken hatte, stand der Erhalt des Werks über der Freundestreue. Man wird das als einen Glücksfall ansehen dürfen. Aber war Brod juristisch im Recht?
Ulrich Fischer, Frankfurter Rechtsanwalt mit Leidenschaft für Literatur, erweist in seinem 2024 im Wallstein-Verlag erschienenen Buch sowohl Kafka als auch Brod, die ja ausgebildete Juristen waren, mit seinem Buch die kollegiale Ehre einer geistreichen und leicht verständlichen juristischen Betrachtung des Falls. Er führt uns die Spezialitäten des um 1924 geltenden tschechischen Erbrechts vor Augen – und, siehe da: Max Brod hätte gar nicht das Recht gehabt, Kafkas Vernichtungs-Wunsch zu erfüllen. Mit dessen Tod fiel all sein Hab und Gut in das Eigentum und damit in die alleinige Verfügungsgewalt der Erben, und das waren Kafkas Eltern und Schwestern, die der Veröffentlichung zustimmten, nicht aber Max Brod.
Ist das Buch nun ein rechtshistorischer Text, der den Literaturfreund nur peripher tangiert? Nein. Die Kunst des menschenfreundlichen Anwalts Fischer, seinen nichtjuristischen Klienten die Rechtslage verständlich zu machen, bewährt sich auf den gut 100 Seiten bestens. Mehr noch: Er verflicht die juristische Analyse mit Beispielen aus Literatur und Alltag. Und so kommt der ethische und soziale Gehalt des Eigentums-Rechts ans Licht, den die hölzerne Sprech- und Denkweise des Gesetzes manchmal verbirgt, manchmal aber auch zeigt: Immerhin sagt Art. 14 Abs. 2 unseres schönen Grundgesetzes: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.«
Und ist es nicht am Ende, wie schon Cervantes schrieb, die Leserschaft, die der Literatur Leben und Wert verschafft? Das Genie gehört nie nur sich selbst.
Ulrich Fischer: »alles … restlos und ungelesen zu verbrennen«: Kafkas letzter Wille – eine juristische Analyse, 1. Aufl., Göttingen: Wallstein 2024, 112 S., 20,00 Euro.