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»Wer bin ich und wenn nein, was sagt mein Doppelgänger?« (15.02.25)

 

Das bin doch nicht Ich! Sagt man, wenn man sich auf einem Bild nicht wiedererkennt. Oder sich nicht erkennen will. Oder wenn man etwas gesagt/getan hat, das man von sich selbst niemals erwartet hätte.

Die Frage des Menschen nach der eigenen Identität ist uralt und die Antworten fallen verschieden aus. Platon sagte natürlich, dass er sowieso und prinzipiell gar nichts weiß. Sogar der alttestamentarische Gott äußerte sich zu seiner Identität zumindest unklar »Ich bin der Ich bin« – kann ja eigentlich jeder sagen.  Andere hielten sich für Göttinnen, Gottessöhne, Gesandte des Schicksals u.v.a.m. »Wer bin ich und wenn ja, wie viele?« ist der witzige und gar nicht so falsche Titel eines berühmten Buchs von Richard D. Precht. Wenn man Sigmund Freud folgt, ist kein Mensch mit sich allein. Jeder hat mindestens drei innere Instanzen, von denen eine sich hinterhältigerweise unter dem Decknamen »Es« zu verstecken pflegt und sich mit dem hochtrabend als »Über-Ich« auftretenden Personenfragment herumprügelt, während das gewissermaßen »normale« Ich die Suppe auszulöffeln hat und sich vor den staatlichen und gesellschaftlichen Instanzen rechtfertigen muss.

Neuere Philosophen sehen im Ich nicht mehr als eine Sammelbezeichnung für die in einem physischen Menschen manchmal sogar wahllos versammelten Eigenschaften, Interessen, Prägungen, Widersprüche, Vergangenheiten, Ziele undsoweiter. Jede dieser Ingredienzien einer Person, so sagen die erwähnten Philosophen, unterliege eigenen Rationalitäten und Irrationalitäten, Herkünften und Neigungen etc.  Alles was sie gemeinsam haben ist der Personalausweis.

Einige Gelehrte erinnert das Ich bei näherer Betrachtung an die sogenannte »Rube-Goldberg-Maschine«. Sie wurde in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts von dem  amerikanischen Cartoonisten Reuben Lucius Goldberg erfunden: Ein  physikalisches Spielzeug, das bestens ausgerüstet ist für unzählige Funktionalitäten und vor sich hin funktioniert, rattert, pfeift, sich dreht, knarrt, klingelt, pendelt, trommelt etc. – unterm Strich aber keinem definierbaren Zweck dient – außer dem, komplizierten Unsinn zu treiben.

Solche und ähnliche Versonnenheiten beschlichen mich kürzlich im Urlaub beim Lesen in einem Reclam-Heft aus den 80er Jahren, das offenbar Jahrzehnte im Seitenfach eines Rucksacks unbemerkt zugebracht hatte. Titel des Hefts: »Solidarität oder Objektivität«. Drei philosophische Essays des amerikanischen Denkers Richard Rorty (1931–2007) zu der Frage, ob es objektive Wahrheit überhaupt geben kann oder ob das, was wir Wahrheit oder Wirklichkeit nennen, nichts weiter ist als das, was wir uns erzählen und das, worauf wir uns gesprächsweise verständigen können, dass es wahr, richtig usw. sei. Wenn man länger drüber nachdenkt, kann einem schon mulmig zumute werden.

Und es traf sich, dass ich meine Lektüre immer wieder durch Strandspaziergänge unterbrach und dabei fast täglich an einer kleinen Statue vorbei kam, die den kanarischen Dichter Saulo Torón (1885–1974) darstellt. Nach ihm ist ein Platz an der Promende »Las Canteras« in Las Palmas benannt. Wer war dieser Mann? Was schrieb er? Bei der Suche nach seinen Werken im Internet stieß ich auf ein Gedicht, das verteufelt gut zu meiner Zufalls-Lektüre passte. »El Doble« (»Der Doppelgänger«) ist ein ziemlich streng gebautes Sonett. In der Übersetzung habe ich versucht, die Form einigermaßen zu wahren, ohne den Gehalt und die merkwürdige Stimmung des Gedichts zu verderben.

El Doble

Ya no sé si soy yo o es aquel hombre
que está ahí, frente a mí, o en cualquier parte;
aquel que se disfraza con un nombre
que no es el mío, aunque mi ser comparte.

Aquel ser temeroso y reverente
que mi amistad tímidamente implora,
que unas veces me mira indiferente
y otras sonríe, o desespera y llora.

El ser que me acompaña y me persigue
fatalmente en la ruta, donde sigue
la duda ahondando el porvenir incierto …

No sé quién soy ni quién esto escribe,
si soy yo o es el otro que concibe
y labora por mí, porque yo he muerto.  

Der Doppelgänger

Ich weiß nicht mehr: Bin ich das? Dieser Mann,
der vor mir steht und sich so sinnlos hin und her bewegt
und diesen Namen, der ja mir gehört, so trägt,
als wäre es nur seiner? Ob das so sein kann?

Bin ich dies Wesen, das mich manchmal so bescheiden
Anfleht, um meine Liebe wirbt, dann wieder keinen
Blick für mich erübrigt und mich kalten Sinnes leiden
Lässt, um gleich darauf erneut mich anzuwinseln und zu weinen?

Dies Wesen, das nicht von mir ablässt und mich mit Fragen auf Tod
Und Leben hetzt, seitdem ich denken kann, und mich umschwirrt
Mit Zweifeln, so dass der Faden meines Seins sich immer neu verwirrt.

Bin ich das? Ich weiß es nicht. Mit ist noch nicht mal klar,
Wer dies hier grade schreibt. Ich? Oder der Typ, der mir in jeder Not
Zu Diensten war und für mich schuftet, bevor ich starb: Ob er das war?

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